„Wir haben unsere Lehren gezogen“
Der CDU-Politiker Thorsten Frei erzielte einst 99 Prozent bei einer Wahl zum Oberbürgermeister. Heute kämpft er für eine politische Erneuerung seiner Partei im Bund.
Herr Frei, als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer zählen Sie zu den einflussreichsten Unionspolitikern im Bund. Sie haben dafür eine Karriere als CDU-Oberbürgermeister von Donaueschingen aufgegeben, obwohl man Sie dort 2012 zuletzt mit unglaublichen 99,4 Prozent gewählt hatte. Wie haben Sie das gemacht? Ist der Schwarzwald so schwarz?
Thorsten Frei: Der Schwarzwald ist tatsächlich eine gute Region für uns. Aber das Ergebnis war schon sehr außergewöhnlich. In BadenWürttemberg wird der Oberbürgermeister in einer eigenen Wahl auf acht Jahre gewählt und das Amt erhält dadurch fast überparteiliche, präsidiale Züge. Das begünstigt gute Wahlergebnisse für Bürgermeister. Ich habe sehr schöne Jahre im Donaueschinger Rathaus erlebt und lebe nach wie vor mit meiner Familie in der Stadt. Ich hätte in dem Amt auch gerne weitergemacht, aber dann gab es in der CDU vor Ort Querelen um den Bundestagsabgeordneten und am Ende war ich Kandidat. In Berlin bin ich in der harten parteipolitischen Realität angekommen, aber mittlerweile mit vollem Herzen in der Bundespolitik.
Die Zeiten für die CDU sind härter geworden. Das erste Mal wurden Sie 2013 noch mit über 56 Prozent, das dritte Mal 2021 mit 36 Prozent in den Bundestag gewählt. Spüren Sie die Krise der Volksparteien?
Frei: Als Kandidat habe ich immer den Bundestrend der Union gespürt. 2013 hatten wir einen enormen Wahlerfolg mit Angela Merkel mit über 41 Prozent. Damals fehlten CDU und CSU nur eine Handvoll Sitze für eine absolute Mehrheit im Bundestag. Dann folgten über zwei Legislaturperioden große Koalitionen und eine Zeit der Krisen. In dieser Phase haben wir uns auch als Union etwas abgekämpft und aus heutiger Sicht mehr Zugeständnisse gemacht, als wir hätten tun sollen. CDU und CSU standen am Ende in der Wahrnehmung der Menschen vor allem für die Große Koalition und hatten an Profilschärfe verloren. Das war ein wesentlicher Grund für die Wahlniederlage 2021. Doch daraus haben wir jetzt die nötigen Lehren gezogen.
Die Parteienlandschaft wird immer vielfältiger, nach der AfD könnte Sahra Wagenknechts BSW in die Parlamente rücken. Geht die Zeit der Volksparteien zu Ende?
Frei: Nein. Als Volksparteien stehen wir in der Union aber vor besonderen Herausforderungen. Zu einer Volkspartei gehört, dass sie einen Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen innerhalb
der Partei austrägt und aushandelt. Und auch hier gilt, dass in der Politik am Ende immer Kompromisse stehen. Das ist keine Schwäche, sondern eine Stärke unserer Demokratie. Aber für eine Volkspartei bedeutet es, dass sie im Gegensatz zu den Populisten nicht mit radikalen Parolen aufwartet, sondern Lösungen für die breite Mitte der Bevölkerung anbietet.
Ist es da nicht ein Problem, dass viele die CDU nur als eine Kanzlerpartei betrachten?
Frei: Das war sicher ein Problem in den letzten Jahren vor unserer Wahlniederlage 2021. Ich habe nichts gegen Pragmatismus. Aber die Menschen müssen wissen, wofür CDU und CSU im Kern stehen. Sie sollten bei der Union nicht nur an eine Machtmaschine denken, die Politik organisiert. Genau deshalb nutzen wir unsere Oppositionszeit, um klar unsere grundsätzlichen Positionen als Christdemokraten
herauszuarbeiten. Wir sind beispielsweise aktuell die einzige Partei, die in der Migrationspolitik grundlegende, aber gleichzeitig praktikable Lösungsansätze über den Tag hinaus anbietet. Wir schlagen eine neue Grundsicherung anstelle des Bürgergelds vor. So gehen wir alle wesentlichen Politikfelder Punkt für Punkt durch. Die Unzufriedenheit der Menschen kommt nicht nur vom Dauerstreit der Ampel, sondern auch von den Ergebnissen ihrer Politik, die zuweilen aus der Zeit gefallen scheint und an den Bedürfnissen der Menschen vorbeigeht.
Betreiben Sie mit den Reizthemen Bürgergeld und Migration nicht nur Behandlung von Symptomen, in denen sich die Unzufriedenheit der Menschen kanalisiert?
Frei: Beim Bürgergeld und der Migration geht es nicht um Parteipolitik, sondern um objektiv vorhandene Probleme. Allein in den vergangenen
zwei Jahren seit Russlands Angriff auf die Ukraine sind in Deutschland 1,4 Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge angekommen und rund 600.000 Asylanträge gestellt worden, was auch ohne den Krieg eine massive Herausforderung wäre. Das heißt, zwei Millionen Menschen sind nach Deutschland gekommen und treffen auf ein Land, in dem ohnehin 700.000 Wohnungen fehlen, in dem 25.000 Lehrerstellen unbesetzt sind und es 380.000 Kitaplätze zu wenig gibt. Wir haben hier ein reales Problem. Die Menschen erwarten von der Politik Lösungen und keine Schönfärberei.
Wird mit dieser Debatte nicht in den Hintergrund gedrängt, dass Einkommensgruppen bis weit in die Mittelschicht massiv unter der Inflation leiden?
Frei: Dieser Punkt treibt auch mich sehr stark um. Was passiert mit den Menschen, die ganz normal arbeiten, aber nicht zu den guten Verdienern gehören, sondern mit einem schmalen Gehalt heimkommen? Diese Menschen sind das Rückgrat unserer Gesellschaft, erziehen Kinder, pflegen ältere Angehörige und engagieren sich in Vereinen. Hier driftet etwas auseinander, wenn Fleiß und Anstrengung nicht mehr belohnt werden. Wir hatten vergangenes Jahr das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik einen Rückgang der Reallöhne um 4,2 Prozent. Das heißt, die Beschäftigten waren am Ende des Jahres ärmer als am Jahresanfang. Und hier macht es einen großen Unterschied, ob jemand Gutverdiener ist oder schauen muss, wie er jeden Monat über die Runden kommt. Für den Gutverdiener ist die Situation ärgerlich. Für jemand, für den am Ende des Geldes noch Monat übrig bleibt, geht es an die Existenz.
Was hat die Union für diese Menschen im Angebot?
Frei: Zunächst empfinden es diese Menschen als ungerecht, dass es für die 5,5 Millionen BürgergeldEmpfänger in den vergangenen zwölf Monaten zweimal eine Erhöhung um jeweils zwölf Prozent gab. Das hat kein Rentner, Pensionär, Arbeitnehmer oder Beamter bekommen. Die Reallohnverluste sind ein Spiegelbild der wirtschaftlichen Krise. Andere Entwicklungen sind für die Menschen noch weniger sichtbar: Wir hatten in den vergangenen 20 Jahren nie die Situation, dass so wenig ausländisches Kapital in Deutschland investiert wurde, aber umgekehrt so viel deutsches Kapital ins Ausland abgeflossen ist. Genau das ist die schleichende Deindustrialisierung. Wir haben mit die höchsten Strom- und Energiepreise der Welt. Wir sind viel zu langsam bei Planungs- und Genehmigungsverfahren. Egal, ob im Wohnungsbau oder der Energiepolitik. Wir ersticken unter zu viel Bürokratie. Wir brauchen strukturelle wirtschaftliche Reformen und eine ehrliche Debatte darüber, dass es anstrengungslosen Wohlstand nicht geben wird. Wir müssen wieder lernen, Arbeit und Leistung positiv zu besetzen. Da ist vieles in eine gefährliche Schieflage geraten.