„Der Taurus kann tief durch Täler fliegen“
Thomas Gottschild ist Deutschland-Chef des Lenkflugkörperherstellers MBDA. Die Firma könnte die Produktion des Marschflugkörpers in Schrobenhausen wieder aufnehmen – dazu braucht sie aber einen neuen Auftrag.
Herr Gottschild, Sie sind als Deutschland-Chef des europäischen Rüstungsunternehmens MBDA auch Herr des Taurus. Sie werden sicher oft auf den präzise einschlagenden Marschflugkörper angesprochen, den Kanzler Olaf Scholz nicht aus Beständen der Bundeswehr an die Ukraine liefern will.
Thomas Gottschild: Ob und unter welchen Rahmenbedingungen Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine geliefert werden, ist eine politische Entscheidung der Bundesregierung, die ich nicht kommentiere.
Schade. Aber Sie sprechen sicher über die Eigenschaften der 1400 Kilogramm schweren Waffen.
Gottschild: Der Taurus hat eine große Abstandswirkung, fliegt mehr als 500 Kilometer weit. Dieses Fähigkeitsprofil wird gerade in der Ukraine stark nachgefragt, um entsprechend Logistikketten und strategische Ziele zu bekämpfen. Deshalb liegt derzeit der Fokus so stark auf diesem Thema.
Militärexperten sagen über die Fähigkeiten des Taurus, der Gegner bemerke den Marschflugkörper erst, wenn er einschlägt.
Gottschild: Der Taurus ist in der Lage, sehr tief selbst durch Täler zu fliegen, was ihn ein Stück weit besonders macht. Er wird dadurch erst sehr spät durch das Radar oder andere Aufklärungsmittel bemerkt.
Ist der Taurus eine gefährliche Waffe?
Gottschild: Der Taurus gehört in einen Baukasten für moderne Kriegsführung. Die Abstandsfähigkeit deckt die Ukraine momentan durch andere Waffen ab. Der Taurus wäre aber aus Sicht der Ukrainer in der aktuellen Situation ein wichtiger ergänzender Baustein. Aber noch einmal: Es obliegt nicht uns, eine Lieferung an die Ukraine zu entscheiden und den Taurus abzugeben. Das ist eine politische Entscheidung.
Die rund 600 Taurus-Marschflugkörper der Bundeswehr wurden am MBDA-Standort im oberbayerischen Schrobenhausen gebaut.
Gottschild: Die Produktionslinie für den Taurus, die Testgeräte und die entsprechenden Hallen sind weiter vorhanden. Wir könnten die Produktion für den Taurus jederzeit anschieben. Dazu bräuchten wir aber einen neuen Auftrag für diese Waffen.
Von heute auf morgen können Sie nicht loslegen, schließlich müssen auch die vielen Zulieferer ihre Produktion wieder hochfahren.
Gottschild: Für unseren Industriezweig ist es eine Herausforderung, wenn die Produktion wie beim Taurus unterbrochen ist. Denn unsere Zulieferer, die häufig kleine und mittelständische Unternehmen sind, haben in solchen Fällen ihre Produktion eingestellt. Sie können es sich finanziell oft nicht leisten, Produktionslinien aufrechtzuerhalten. Wenn wir also
neue Aufträge für den Taurus bekämen, müssten sich zunächst unsere Zulieferer wieder neu aufstellen und beispielsweise die für sie notwendigen Rohstoffe sichern.
Kann man Rüstungsgüter von der Stange kaufen, wie das manchen Politikern vorschwebt?
Gottschild: Das Gesetz verbietet uns eine Produktion auf Vorrat, hierzu ist eine Genehmigung der Bundesregierung, basierend auf Aufträgen, notwendig. Diese blieben in der Vergangenheit aus. Unabhängig davon gibt es immer eine Vorlaufzeit, um liefern zu können. Die Rüstungsindustrie kann keine Wunder bewirken: Wir kriegen heute den Auftrag und können morgen liefern – das funktioniert nicht. Deshalb weisen wir in der Diskussion mit der Politik darauf hin, wie stark wir darauf angewiesen sind, dass Aufträge für uns planbar sind. Die Rüstungsindustrie braucht langfristige Aufträge, um zukünftig auch kurzfristig Fähigkeiten bereitstellen zu können.
Deutschland hat die Bundeswehr kaputtgespart, was der heimischen Rüstungsindustrie zusetzt.
Gottschild: Die Rüstungsindustrie braucht in der Produktion eine Grundlast, damit wir die Produktion bestimmter Waffen am Laufen halten können. Dabei müssen wir nicht immer auf Hochtouren produzieren, es reicht aus, dass es sich lohnt, Lieferketten aufrechtzuerhalten, Testgeräte auf modernstem Stand zu halten und die Kompetenz der Beschäftigten zu bewahren. Dann können wir in einem Notfall wie jetzt die Produktion sehr schnell wieder hochfahren.
Was in vielen Fällen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine nicht ging.
Gottschild: Was gerade passiert, darf uns nicht mehr passieren. Wenn wir die Produktion unterbrechen, tritt wieder das gleiche Problem wie heute ein. Dann müssen wir alles neu in Gang setzen.
Brauchen Sie mehr Verlässlichkeit seitens der Politik?
Gottschild: Am Ende braucht die Rüstungsindustrie Aufträge. Wir gehen zwar mit Investitionen in Vorleistung, aber es gibt Grenzen. Es ist bedauerlich, wenn man viel Zeit ins Land gehen lässt. Hier können wir in Deutschland wesentlich besser und schneller werden. Die Beschaffungsprozesse auf der Kundenseite haben sich aber schon deutlich verbessert. Es gibt jedoch noch viel Potenzial, um schneller Rüstungsgüter zu beschaffen, gerade was die Zertifizierung und Qualifizierung betrifft.
Wie kräftig investieren Sie?
Gottschild: Wir investieren als MBDA Deutschland in den nächsten vier Jahren über 200 Millionen Euro in unsere Standorte, um unsere Produktionslinien hochzufahren.
Wie viel zusätzliche Beschäftigte brauchen Sie?
Gottschild:
Wir haben schon im vergangenen Jahr zusätzliche Mitarbeiter eingestellt. Bis Ende nächsten Jahres schaffen wir hauptsächlich an unserem Standort in Schrobenhausen rund 300 Arbeitsplätze. In Schrobenhausen arbeiten derzeit knapp 1000 unserer insgesamt rund 1200 Beschäftigten in Deutschland. Auch was den Personalaufbau betrifft, sind wir seitens der Politik auf eine langfristige Perspektive angewiesen.
Gehen Sie mit den Investitionen über 200 Millionen Euro in Vorleistung oder gibt es bereits klare Signale der Bundesregierung für zusätzliche Aufträge?
Gottschild: Signale gibt es viele, wir brauchen aber auch Verträge. Wir vertrauen jetzt ein Stück weit darauf, dass diese Verträge zustande kommen. Natürlich gehen wir auch ins Risiko, was etwa den Ausbau von Standorten und die Finanzierung neuer Produkte betrifft.
Die Zauberformel für eine leistungsfähige Rüstungsindustrie besteht in der Verstetigung von Aufträgen. Gift ist hingegen, lange zu wenige und plötzlich zu viele Aufträge zu bekommen.
Gottschild: Es gibt aber auch positive Beispiele wie das bodengestützte Flugabwehrraketen-System Patriot. Hier haben sich bei der Nachbestellung mehrere Länder auf Initiative Deutschlands zusammengeschlossen. MBDA erhielt mit seinem US-Partner Raytheon über ein Gemeinschaftsunternehmen einen Vertrag zur Herstellung von bis zu 1000 Flugkörpern, die in Schrobenhausen produziert werden. Der Vertrag ist auf zehn Jahre angelegt. Auf dieser Basis können wir investieren.
Wann werden die ersten PatriotRaketen in Schrobenhausen produziert?
Gottschild: Der Vertrag ist unterschrieben. Die Endfertigung der Flugkörper findet in Schrobenhausen statt. In Aschau planen wir gerade den Bau der Produktionsstätte für den Motor. Innerhalb von drei Jahren werden wir die ersten Patriot-Flugköper liefern.