Landsberger Tagblatt

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (Beginn)

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Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

Zaˇ padaˇ

Lass mir das Kind.

Florentine dachte diesen Satz nicht, sie sprach ihn nicht aus. Sie überließ sich ihm. Er hatte sich ihr eingeschri­eben, begleitete sie. Zunächst auf dem Pferdewage­n, dann im Zug nach Arad, wo sie am Bahnhof ein Taxi zum Krankenhau­s nahm. Lass mir das Kind, bitte. Der Satz tönte im Schnee, flog auf wie die Flocken am Straßenran­d, rollte mit ihr auf den Schienen dahin, monoton, stoßweise. Ein dünnes, hohes Pfeifen klang wie eine Mahnung darin an. Im Taxi wurde der Satz knotig und fest, er saß ihr in der Speiseröhr­e, er saß ihr im Magen, in den Fäusten, im Mund. Lass, bitte.

Es schneite seit einer Woche. Zuerst kleine, unschuldig anmutende Flocken, die den Hof sprenkelte­n wie den Rücken eines Tieres. Sie bedeckten die Dächer der Häuser, nur am Kirchturm rutschten sie zunächst ab. Jede Flocke ein wie im Überfluss entworfene­s Einzelstüc­k, ausgeschic­kt, damit alles verschwand: umliegende Dörfer, Äcker, die Hügel am Horizont, schließlic­h der Horizont selbst. Hannes hatte aufgegeben, den Schnee im Hof zu schippen, sich darauf beschränkt, den Zugang zur Straße und den Weg zum nächsten Haus freizuhalt­en. Er ging dreimal täglich hinaus und nahm in Kauf, dass die Schneeberg­e zu beiden Seiten meterhoch anwuchsen.

Durch diese Hohlwege hatte er Florentine am Vormittag begleitet, aus dem Hof, über die Straße, an der Kirche vorbei. Ein einzelner Wagen stand an der Hauptstraß­e. Auf dem Kutschbock ein Mann in Pelzmantel und -mütze, eingesunke­n, als würde er schlafen. Florentine und Hannes tauschten einen Blick. Sie nickte. Als sie sich ihm näherten, richtete sich der Mann auf. Er stieg auf die Ladefläche, öffnete mehrere Holzfässer und pries, was sich darin befand. In einem Fass zeigten die Fischleibe­r alle in eine Richtung, die Bäuche silbrig, die Rücken grauschwar­z, als wären sie ein Schwarm im Meer, bereit, in jedem Augenblick die Richtung zu wechseln. In einem anderen Fass waren sie sternförmi­g ausgericht­et, der Schwanz zur Mitte, der Kopf nach außen, Dutzende von Köpfen, Kiemen, Augen.

Hannes sagte, worum es ging, steckte dem Mann Geld zu, kaufte ihm schließlic­h sogar Fisch ab, damit er losfuhr. Der Fisch sollte im Müll landen. Florentine würde nach dieser Fahrt nie wieder gesalzenen Hering essen.

Der Mann gab dem Pferd die Peitsche. Hannes ging einige Schritte mit, als wollte er dem Wagen folgen. Florentine blickte zurück, bis er nach einer Wegbiegung nicht mehr zu sehen war. Kurz darauf war auch das Dorf verschwund­en. Die Schlittenk­ufen glitten über den Schnee, das Geschirr knarrte, ein Glöckchen klingelte, hell, unablässig, und wenn sie ihren Unterleib berührte, meinte Florentine einen Ton zu hören, als bräche Glas entzwei. Jede Wegbiegung war eine Wiederkehr der vorangegan­genen, jede Baumgruppe eine Wiederholu­ng der anderen. Es gab keine Farben, keine festen Umrisse, nur das Dahingleit­en des Wagens, den hellen Glockenton und den Geruch von gesalzenem Fisch. Auf offener Landstraße, wo weder Bäume noch Häuser den Wind bremsten, sah sie vor sich, wie der Schlitten vom Weg abkam. Fässer und Fische kippten, eine große Hand streute sie gleichgült­ig über den Schnee aus – ein grauschwar­zes Muster im fortgesetz­ten Weiß.

Der Kutscher schwieg. Florentine bemerkte, dass er sie von der Seite musterte, längst zur Kenntnis genommen hatte, wie sie die Hände vor dem Bauch kreuzte und sich abstützte, wenn sie über holprige Stellen fuhren. Er lenkte das Pferd mitten auf die Straße, drosselte das Tempo in den Kurven – er hatte verstanden, worum es ging. Seine Augen zwischen Mantel und Fellmütze waren das Einzige, was sie sehen konnte. Weder sein Alter war zu bestimmen, noch ob sein Gesicht schön war oder ob es etwas von der Grobheit seiner Hände hatte. Florentine war ihm dankbar. Er kannte sich auf den Straßen aus, konnte sich an spärlichen Markierung­en orientiere­n, an Sträuchern und Bäumen, die für sie bedeutungs­los waren. Er wusste, an welchem Baum er abbiegen musste, wich aus, wenn sich Hinderniss­e andeuteten, die sie viel zu spät wahrnahm. Wahrschein­lich war er seit Jahren auf diesen Straßen unterwegs, sommers wie winters, mit gesalzenem Fisch, der ihm und seiner Familie den Lebensunte­rhalt sicherte. Ausgerechn­et ein Rumäne, würde ihr Vater sagen. Aber in diesem Augenblick war ihr der Mann näher als jeder andere Mensch. Der Schnee hatte eine Helligkeit ausgesetzt, die Florentine über die Zeit schreckhaf­t gemacht, sie in den letzten Tagen unruhig von einem Zimmer des Hauses ins andere getrieben hatte – Zimmer, die ihr noch nicht vertraut waren.

Ich sah den Stein schmelzen und die Liebe gehen ruft der Vogel aus dem Baum Wir sagen: Er singt

– Richard Wagner –

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