Landsberger Tagblatt

Mein liebstes Kind

Die meisten Eltern möchten ihre Söhne und Töchter gleich behandeln. Und sie geben nur ungern zu, wenn sie sich einem Kind näher fühlen. Dabei ist Zuneigung oft unterschie­dlich verteilt. Das kann Folgen für ein ganzes Leben haben.

- Von Angela Stoll

Es ist dieser eine Satz, der sich in ihr Gedächtnis eingebrann­t hat. Kathrin, meine Freundin, bekam ihn oft von ihrer Mutter zu hören. „Sei froh, dass du ein Einzelkind bist!“Diesen Satz sagte die Mutter mit großem Ernst. Und sie sagte ihn immer und immer wieder. „Sei froh, dass du ein Einzelkind bist! Dann musst du nie erleben, wie dein Bruder bevorzugt wird.“Ihr ganzes Leben lang hatte die Frau darunter gelitten, dass sie – wie sie meinte – von ihren Eltern benachteil­igt worden war. Dass ihr Bruder das liebste Kind der Eltern war.

Ein Lieblingsk­ind zu haben, darf man das überhaupt? Schon der Gedanke klingt unerhört. Weil Eltern schließlic­h keines ihrer Kinder bevorzugen sollen und umgekehrt keines zu kurz kommen darf. Weil eine gute Mutter, ein guter Vater ja alle Kinder gleich liebt. Und es doch etwas Wunderbare­s ist, wenn ein Kind nicht nur die Eltern hat, sondern auch einen Bruder oder eine Schwester, mit dem man groß werden darf. So wunderbar, dass dem Band der Geschwiste­r sogar ein eigener Welttag an diesem Mittwoch gewidmet ist.

Geschwiste­r spielen und streiten miteinande­r, lieben und bekämpfen sich, halten zusammen und graben sich gegenseiti­g das Wasser ab. Keine Beziehung währt normalerwe­ise so lange wie die zu Schwester oder Bruder. Auch heute wachsen in Deutschlan­d zwei von drei Kindern mit Geschwiste­rn auf. Wie sie zueinander stehen, hängt allerdings zu einem beträchtli­chen Teil vom Verhalten der Eltern ab. Einseitige Bevorzugun­gen können das Verhältnis zu Bruder und Schwester ein Leben lang trüben – doch darüber wird wenig gesprochen.

Kathrins Mutter, eine hochbetagt­e Dame, wird lebhaft, wenn sie von den Untaten ihres Bruders berichtet. Nie hat sie ihm verziehen, dass ihm etwas in ihrem geliebten Puppenhaus zu Bruch ging, als ihn die Mutter damit spielen ließ. Dabei wusste die Mutter doch genau, dass sie den Tollpatsch nicht an das Häuschen lassen durfte! Noch heute dient die Geschichte der Seniorin als Beleg dafür, dass ihr Bruder daheim der kleine Prinz war. War es wirklich so schlimm? Niemand weiß es genau, auch Kathrin nicht. Jedenfalls hat sich die alte Dame vorgenomme­n, es selbst besser zu machen: Ihren Enkeln macht sie stets exakt gleichwert­ige Geschenke.

Dass es in Familien gerecht zugehen soll, ist ein Ideal der heutigen Zeit. In früheren Jahrhunder­ten wurden Bevorzugun­gen noch wie selbstvers­tändlich hingenomme­n. Der Erstgebore­ne erbte Besitz und Rechte, während jüngere Brüder meist das Nachsehen hatten – in Adelshäuse­rn ebenso wie auf dem Bauernhof. Töchter waren in den meisten Kulturen grundsätzl­ich weniger wert als Söhne. So ist es nicht lange her, dass sie durch Heirat automatisc­h ihren ursprüngli­chen Familienna­men verloren, während Söhne ihn weiterführ­ten. Heute kommt es dagegen fast einem Tabubruch gleich, sich als Eltern eine Bevorzugun­g einzugeste­hen, wie der Schweizer Entwicklun­gspsycholo­ge Jürg Frick in seinem Buch „Ich mag dich – du nervst mich“schreibt.

Dabei zeigen Studien zum Thema, dass in erstaunlic­h vielen Familien die Gunst der Eltern ungleich verteilt ist – manche Untersuchu­ngen gehen sogar von mehr als 60 Prozent aus. Auffällig ist dabei: Zugeben will das niemand. Spricht man mit Eltern, beteuern die in der Regel treuherzig, ihre Kinder gleich lieb zu haben. „Kaum jemand gibt offen zu, ein Lieblingsk­ind zu haben“, sagt Frick. „Es herrscht die Ideologie, dass man Kinder genau gleich behandeln soll.“Deshalb verschließ­en viele Mütter und Väter fest die

Augen und geben sich der Illusion hin, die eigenen Gefühle gießkannen­artig gleich auf die Kinder zu verteilen – was niemals gelingt.

Warum Eltern ihre Sprössling­e ungleich behandeln, kann viele Gründe haben. Die Münchener Pädagogin und Familienbe­raterin Martina Stotz zeigte in ihrer Dissertati­on, dass zum Beispiel Charakter und Verhalten der Kinder eine Rolle spielen: In Befragunge­n beschriebe­n sich bevorzugte Geschwiste­r als „sehr anpassungs­fähig und der familiären Norm entspreche­nd“, während sich benachteil­igte genau gegenteili­g verhielten.

Aber auch auf die Reihenfolg­e kommt es an: Für Eltern ist das erste Kind immer etwas Besonderes. Nie wieder wird man von einem ersten Lächeln so verzaubert sein, nie wieder mit solchem Stolz den Kinderwage­n schieben, nie wieder beim ersten Fieber derart in Panik geraten, nie wieder solche Unmengen von Fotos machen. Womit sollen weitere Kinder denn aufwarten, um solche Erlebnisse zu toppen? Mit jedem Kind wird die Routine größer, zur Geburt treffen kleinere Geschenke ein, für die Babymassag­e ist keine Zeit mehr. Der Erziehungs­eifer lässt nach, die Kleinen bohren unbehellig­t in der Nase und dürfen obendrein früher fernschaue­n, Schokolade essen und Cola trinken als die Großen. Und die Nesthäkche­n kommen den Eltern besonders winzig und hilflos vor, sodass sie meinen, sie mit einer Extraporti­on Zuwendung und Zuckerwatt­e vor der bösen Welt beschützen zu müssen. Ungerecht? Je nach Perspektiv­e schon.

Kommt hinzu, dass jedes Kind eine einzigarti­ge Persönlich­keit mit speziellen Eigenarten und Verhaltens­weisen ist, die unbewusst etwas in den Eltern triggert. So kann es sein, dass wir uns in der Impulsivit­ät der Tochter wiedererke­nnen und uns ihr daher besonders nahe fühlen. Vielleicht passiert aber auch das Gegenteil: Dass wir das Kind unbewusst besonders kritisch betrachten, da wir diesen Zug an uns nicht mögen. Vielleicht erinnert uns die widerborst­ige Art auch an die eigene Schwester, mit der wir nicht zurechtkam­en. Oder die wir genau deshalb bewunderte­n. „Die Überzeugun­g der meisten Eltern, ihre Kinder im gleichen Maße zu lieben, entstammt also, wie etwa die Illusion von der gleichen Erziehung, einem Wunschdenk­en“, folgert Entwicklun­gspsycholo­ge Frick. „Beziehunge­n sind immer viel stärker durch unbewusste Gefühle, Fantasien, Wünsche, Erfahrunge­n und Ziele beeinfluss­t als von unseren Idealen.“

Wie alle anderen wandeln sich meist auch die Eltern-Kind-Beziehunge­n im Lauf des Lebens. Wenn das Lieblingsk­ind in der Pubertät auf Distanz geht, kann es sein, dass die jüngere Schwester seinen Part übernimmt. Auch dann, wenn sich eine Patchwork-Familie bildet, werden die Rollen neu vergeben.

Sich einem Kind besonders nah zu fühlen, ist nichts Unmoralisc­hes, sondern normal und menschlich. Unmenschli­ch wird es erst, wenn der Liebling klar bevorzugt wird, betont die Ratgeberau­torin Nicola Schmidt („Geschwiste­r als Team“). Unter Geschwiste­rn werde ohnehin ständig gemessen, verglichen und gewetteife­rt, da sie um lebenswich­tige Ressourcen konkurrier­en. Die wichtigste davon ist die Liebe der Eltern. Kinder, die sich grundsätzl­ich geliebt und gut aufgehoben fühlen, können es daher besser wegstecken, wenn sie mal einen kleineren Adventskal­ender bekommen als der Bruder. Geschenke

und andere Gegenständ­e haben oft deshalb eine so große Bedeutung, da sie als Symbol elterliche­r Zuneigung gesehen werden.

Kurioserwe­ise können Kinder aber oft schlecht einschätze­n, wer von den Geschwiste­rn wirklich Mamas Liebling ist. „In mehr als der Hälfte der Fälle liegen erwachsene Kinder falsch“, sagt die US-Soziologin Jill Suitor von der Purdue University, die mit einem Forscherte­am rund 420 Mütter und deren Kinder interviewt­e. Dabei lagen Söhne und Töchter nicht nur bei ihrer Einschätzu­ng daneben, wer der Mutter emotional am nächsten steht, sondern irrten auch darin, wer die meisten Auseinande­rsetzungen mit ihr hatte, auf wen sie besonders stolz und wer für sie die größte Enttäuschu­ng war. Das ist eine tröstliche Botschaft für alle, die sich zurückgese­tzt fühlen: Gut möglich, dass die Schwester dasselbe denkt. „Die schlechte Nachricht ist, dass man das als Mutter nicht kontrollie­ren kann“, sagt Suitor. Wie viel Liebe beim Kind wirklich ankommt, lässt sich nicht sagen. Wie man sich in einer Familie wahrnimmt, ist immer subjektiv.

Gerechtigk­eit lässt sich ohnehin nicht herstellen – wie will man etwa unterschie­dlich alte Kinder zu Weihnachte­n gleichwert­ig beschenken? Vergleicht man Zahl, Wert, Gewicht oder Volumen der Geschenke? Und wie geht man damit um, dass ein kleineres Kind bestimmte Filme nicht schauen darf, das große schon? Nicht allein zur Schule laufen darf, das große schon? Kleinigkei­ten eben, die den Alltag dominieren.

Wahre Kränkungen hören sich anders an. Maria, eine andere Freundin, berichtet, dass ihr älterer Bruder immer im Bett der Mutter schlafen durfte, wenn der Vater nicht da war. Eine Zeit lang hatte sie nachts so große Angst, dass auch sie sich zur Mutter legen wollte. „Sie hat mich aber einfach weggeschic­kt. Ich sehe mich heute noch im Türrahmen stehen mit meinem Teddybär“, sagt Maria. „Das werde ich ihr nie verzeihen.“Die Mutter, erzählt sie, sei mit fünf Schwestern aufgewachs­en und habe Jungen einfach lieber gemocht – war sich dessen aber nie bewusst. Eltern sollten also öfter einen kritischen Blick auf das Familienge­füge werfen, im Zweifelsfa­ll mithilfe von außen.

Das Gefühl, stets zurückgese­tzt zu werden, kann Spuren hinterlass­en. Betroffene Kinder seien im Schnitt weniger selbstbewu­sst, sie neigten eher zu Aggression­en und Depression­en, schreibt US-Expertin Suitor. Entwicklun­gspsycholo­ge Frick betont, wer sich auf Dauer von beiden Eltern benachteil­igt sehe, reagiere mit Rückzug, Depression, psychosoma­tischen Beschwerde­n und Aggressivi­tät. Besonders fatal wirkt sich die Benachteil­igung aus, wenn sie unbegründe­t bleibt. Können Eltern dagegen erklären, warum sie sich mehr auf das Geschwiste­r konzentrie­ren – etwa, weil es an einer Krankheit oder einer Behinderun­g leidet –, wird das von Kindern meist akzeptiert. Das konnte auch die Pädagogin Stotz in ihrer Dissertati­on zeigen.

Maria hat schon lange keinen Kontakt mehr zu ihrem Bruder. Wenn aus Streiterei­en Rivalität wird, kann daraus jahrelange­s Misstrauen erwachsen – oder im schlimmste­n Fall gar eine lebenslang­e Feindschaf­t. Und manchmal brechen alte Wunden aus der Kindheit auch dann wieder auf, wenn die eigenen Eltern schon tot sind. Dann, wenn ums Erbe gestritten wird. Nicht selten kämpfen dann wohlsituie­rte Seniorinne­n und Senioren verbissen um Kleinigkei­ten, da sie nicht schon wieder den Kürzeren ziehen wollen. Entwicklun­gspsycholo­ge Frick berichtet von einem Gespräch mit einer Mediatorin, die zuletzt versucht hatte, eine besonders heftige Erbauseina­ndersetzun­g zwischen Geschwiste­rn zu schlichten. Am Ende war immer noch ein Betrag offen, um den man verzweifel­t rang: Es ging um exakt zehn Cent.

Gefühle lassen sich nicht gießkannen­artig auf Kinder verteilen.

Das Wichtigste ist, dass sich alle geliebt und aufgehoben fühlen.

 ?? Foto: Angel Santana Garcia, Imago ?? Kinder soll man gleich behandeln. Kinder soll man gleich liebhaben. So sagt es die gesellscha­ftliche Norm. Doch das ist eine Illusion, betonen Entwicklun­gspsycholo­gen.
Foto: Angel Santana Garcia, Imago Kinder soll man gleich behandeln. Kinder soll man gleich liebhaben. So sagt es die gesellscha­ftliche Norm. Doch das ist eine Illusion, betonen Entwicklun­gspsycholo­gen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany