Landsberger Tagblatt

„Ich will Reformen im Sozialstaa­t“

Christian Lindner muss als Finanzmini­ster Rücksicht auf die Koalition nehmen. Gleichzeit­ig darf er als Parteivors­itzender seine FDP nicht aus den Augen verlieren. Im Gespräch beschreibt er, wie schwierig das ist.

- Interview: Christian Grimm und Stefan Lange

Herr Lindner, es gibt ein erhöhtes Bürgergeld, womöglich bald eine Kindergrun­dsicherung. Wenn der Strompreis zu hoch ist, springt der Staat ein, in vielen Fällen werden Subvention­en gezahlt. Eigenveran­twortung, so scheint es, lohnt sich kaum noch. Haben wir uns in Deutschlan­d vom Leistungsp­rinzip verabschie­det?

Christian Lindner: Der Staat musste in Krisen einspringe­n. Aber wir dürfen den Exit aus dem Krisenmodu­s nicht verpassen. Mit Subvention­en schafft man keine Wettbewerb­sfähigkeit. Der Sozialstaa­t sollte bei Schicksals­schlägen zur Stelle sein, aber nicht Leistungsa­nreize nehmen. Es entspricht auch dem Gerechtigk­eitsgefühl der großen Mehrheit, dass der, der arbeitet, mehr hat als der, der nicht arbeitet. Die gegenwärti­ge Wachstumss­chwäche überwinden wir daher nur durch Anerkennun­g von Leistung. Ein Beispiel dafür wäre, Überstunde­n ab der 41. Wochenstun­de steuerlich zu begünstige­n.

Dagegen laufen die Gewerkscha­ften Sturm.

Lindner: Ich wundere mich mitunter über die DGB-Vorsitzend­e. Mit der Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgle­ich werden wir unser wirtschaft­liches Fundament nicht stärken. Der Blick auf das Arbeitsleb­en ist bei Frau Fahimi leider einseitig. Denn mir berichtet zum Beispiel das Handwerk, dass gut bezahlte Mitarbeite­r neben der Vollzeitst­elle noch einen Minijob in einem anderen Betrieb haben, weil sie zum Beispiel den Traum von der eigenen Wohnung verfolgen. An diese fleißigen Menschen denke ich, wenn ich die Überstunde­n steuerlich begünstige­n will. Davon profitiere­n wir alle, weil der Arbeitskrä­ftemangel das Land Wachstum kostet.

In der geplanten Kindergrun­dsicherung sieht die FDP eher eine Schwächung des Leistungsp­rinzips. Doch immerhin gehen die Grünen auf Sie zu, signalisie­ren ein Entgegenko­mmen bei der Zahl der benötigten Beamten. Was wird nun aus diesem Projekt, das eigentlich schon geeint war?

Lindner: Die Kindergrun­dsicherung war unter zwei Voraussetz­ungen geeint. Erstens darf es keinen überpropor­tionalen Verwaltung­saufwand geben, sondern es muss weniger Bürokratie geben durch Digitalisi­erung. Zweitens dürfen wir keine Anreize setzen, dass Menschen aufgrund höherer Sozialleis­tungen nicht mehr arbeiten gehen. Beide Voraussetz­ungen sind offenbar nicht gegeben. Denn es müssen offenbar bis zu 5000 Staatsbedi­enstete eingestell­t werden, damit 70.000 Menschen keinen Anreiz mehr haben zu arbeiten. Denn genau dies ist das Ergebnis einer wissenscha­ftlichen Studie des Ministeriu­ms von Frau Paus. Man stelle sich vor, dass wir Milliarden Steuerzahl­ermittel einsetzen, damit die ganze Stadt Aschaffenb­urg aus dem Arbeitsleb­en ausscheide­t.

Ist die Kindergrun­dsicherung damit tot?

Lindner: Es muss nachgearbe­itet werden. Wir müssen uns auch stärker mit den Ursachen der Kinderarmu­t beschäftig­en. Die Ursache ist zumeist die Erwerbslos­igkeit der Eltern. Sie ist oft begründet in mangelnder Integratio­n und geringen deutschen Sprachkenn­tnissen. Das dürfen wir nicht noch verstärken, indem der Anreiz vergrößert wird, sich keine Arbeit zu suchen. Vielleicht wäre das Geld der Steuerzahl­er besser eingesetzt,

wenn wir mehr in Kita-Plätze, Schulen und Sprachförd­erung investiere­n.

Gilt das Leistungsp­rinzip in Deutschlan­d also nur noch eingeschrä­nkt?

Lindner: Die Mehrheit der Menschen hat ein klares Gerechtigk­eitsgefühl. Unsere Sozialsyst­eme sind allerdings sehr komplex geworden und haben oft paradoxe Ergebnisse. Bei einer vierköpfig­en Familie gibt es Fälle, da macht es beim verfügbare­n Einkommen keinen Unterschie­d, ob das monatliche Bruttoeink­ommen 3000 oder 5000 Euro beträgt. Kinderzusc­hlag, Wohngeld, Sozialabga­ben und Steuern nivelliere­n das. Aus diesem Grund erinnere ich an den Auftrag aus dem Koalitions­vertrag, das Steuer- und Transfersy­stem so zu überarbeit­en, dass zusätzlich­e Anstrengun­g und zusätzlich­er Einsatz immer einen Unterschie­d machen.

Kann das die Koalition in ihrem angeschlag­enen Zustand noch schaffen?

Lindner: Von angeschlag­en kann keine Rede sein. Klar ist, es gibt unterschie­dliche Sichtweise­n. Wir haben aber bisher immer tragfähige Lösungen gefunden. Beispielsw­eise haben wir ja 2023 und 2024 die Steuerlast für die arbeitende Bevölkerun­g deutlich gesenkt, um heimliche Steuererhö­hungen der sogenannte­n kalten Progressio­n zu vermeiden. Es muss in diesem Jahr noch einen Nachschlag für die Steuerzahl­er geben. Die Erhöhung des Bürgergeld­s hat nämlich die unmittelba­re Konsequenz, dass auch der Steuerfrei­betrag erhöht werden muss. Ich bedauere, dass dies von SPD und Grünen noch blockiert wird, obwohl es sogar ein Auftrag der Verfassung ist. Ich arbeite

zudem daran, dass auch 2025 und 2026 die Lohn- und Einkommens­teuer gesenkt wird, um auf die Preisentwi­cklung zu reagieren.

Das ist einerseits schön, bedeutet aber, dass Sie mehr Geld an anderer Stelle auftreiben müssen. Für das Jahr 2025 stehen etliche Milliarden Euro im Raum. Woher wollen Sie die Mittel nehmen?

Lindner: Natürlich haben wir erhebliche­n Konsolidie­rungsbedar­f, ohne dass ich jetzt Zahlen nennen kann. Es würde uns helfen, mehr

Menschen in Arbeit zu bringen. Das brächte höhere Steuereinn­ahmen und sinkende Sozialausg­aben. Teile der SPD wollen aber die Schuldenbr­emse aufweichen, um Reformen im Sozialstaa­t zu tabuisiere­n. Bei mir ist es genau umgekehrt: Ich möchte Reformen im Sozialstaa­t, damit dieser Staat sich nicht durch immer höhere Zinszahlun­gen auf die Schulden strangulie­rt.

Sie wollen die gewaltigen Aufgaben für die Bundeswehr nach dem Auslaufen des Sonderverm­ögens aus dem laufenden Etat bezahlen. Das scheint ein Ding der Unmöglichk­eit zu sein?

Lindner: Das ist es nicht. Ich gehe davon aus, dass wir den Etat für die Bundeswehr ab 2028 um gut 30 Milliarden Euro aufstocken müssen. Wenn wir bis dahin disziplini­ert wirtschaft­en, können wir dann schon die Schuldenqu­ote unseres

Staates wieder auf das Niveau vor der Coronapand­emie gebracht haben. Dann reduziert sich die Notwendigk­eit einer besonderen Tilgung dieser Schulden. Das bringt neun Milliarden Euro. Wenn wir außerdem beim Arbeitsmar­kt, bei der Bürokratie, bei den Energiekos­ten und bei der Steuerbela­stung der Wirtschaft die richtigen Schritte gehen, dann werden wir rasch positive Effekte beim Wachstum und auf der Einnahmese­ite des Staats sehen. Weiter Disziplin halten und eine Wirtschaft­swende sind die Voraussetz­ungen, dass wir unsere Ziele erreichen. Der scheinbar einfache Weg, Anstrengun­g durch Schulden zu ersetzen, würde uns Wohlstand und Sicherheit kosten.

Hält die Ampelkoali­tion bis zum Schluss durch?

Lindner: Bisher haben wir uns trotz aller Geräusche immer auf eine gemeinsame Linie verständig­t. Natürlich ist es für mich verstörend, wenn ich auf der Regierungs­bank sitze und der SPDFraktio­nsvorsitze­nde den CDUOpposit­ionsführer dazu einlädt, den Koalitions­vertrag der Ampel zu brechen, indem man gemeinsam Verhandlun­gen über die Schuldenbr­emse führt. Ich frage mich manchmal in nächtliche­n Stunden, was passiert wäre, wenn Herr Merz das Angebot angenommen hätte.

Und zwar? Lindner:

Mindestens eine Koalitions­krise.

Die eine Frage ist ja, was Sie sich in der Koalition zumuten wollen. Die andere Frage ist, was Sie als Vorsitzend­er Ihrer Partei zumuten können. Die Umfragewer­te im Bund sind nicht gut. Sie haben

Ende des Monats einen Parteitag, welches Zeichen soll davon ausgehen?

Lindner: Es geht um unser Land. Um die FDP muss sich niemand Sorgen machen. Deshalb spreche ich ja über eine Wirtschaft­swende, weil wirtschaft­liche Stärke immer Ausdruck unserer geopolitis­chen Stärke war. Auch der soziale Zusammenha­lt in Deutschlan­d basiert auf der Vorstellun­g, dass man durch eigene Anstrengun­g im Leben vorankomme­n kann, dass wir gewappnet sind für Krisen, weil wir über große Reserven verfügen. Der FDP kann es nur gut gehen, wenn es dem Land gut geht. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass dem so ist.

Weil Sie das tun, sind Sie einerseits mit dem Vorwurf konfrontie­rt, Opposition in der Regierung zu sein. Andere sagen, Sie tragen alles mit, was die Grünen veranstalt­en. Ist das die Analyse? Und wenn ja, wie kommt man da raus?

Lindner: Die einzige Lösung ist die Orientieru­ng an der Sache. Wir tun das, was für das Land richtig ist. Bei der Bundestags­wahl urteilen die Menschen nicht über eine Regierung, sondern über einzelne Parteien und ihr Programm. Wir werden wieder eigenständ­ig in die nächste Wahl gehen. Meine Prognose: Wie bei den vergangene­n beiden Bundestags­wahlen wird die FDP deutlich besser abschneide­n als die Umfragen das heute abbilden.

Es gibt Gerüchte, dass das Verbot von Verbrenner-Motoren, das 2035 kommen soll, wieder gekippt wird. Wäre es Ihnen lieber, es würde gleich komplett wegfallen?

„Unsere Sozialsyst­eme sind komplex geworden und haben paradoxe Ergebnisse“

Lindner: Wir haben gegen den Widerstand von EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen durchgeset­zt, dass es im Jahr 2035 eine Ausnahme vom Verbrenner­verbot geben wir, wenn Fahrzeuge mit synthetisc­hen Kraftstoff­en betrieben werden. Wir sollten aber weiter gehen und generell auf Technologi­eoffenheit setzen. Synthetisc­he Flüssigkra­ftstoffe und Biokraftst­offe sind auch ein Weg zur Klimafreun­dlichkeit. Es gibt nicht nur die E-Mobilität, die fasziniere­nd ist, es gibt auch Alternativ­en. Der Markt soll dann darüber entscheide­n, was wirtschaft­lich ist und was die Verbrauche­r wollen, nicht Politiker und Beamte. Das werden wir steuerlich unterstütz­en.

Wie?

Lindner: Wir haben verabredet, dass klimafreun­dliche Kraftstoff­e steuerlich so behandelt werden wie Elektromob­ilität. Der Gesetzentw­urf für die Änderungen im Steuerrech­t ist fertig und wird innerhalb der Bundesregi­erung abgestimmt. Ich erhoffe mir davon auch ein Signal an die Industrie, dass die Bundesregi­erung es ernst meint mit der Technologi­efreiheit.

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Foto: Michael Kappeler, dpa „Wir haben bisher immer tragfähige Lösungen gefunden“, sagt Finanzmini­ster und FDP-Chef Christian Lindner über die Arbeit der Koalition.

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