Sieg der Klimaklägerinnen
Weltpremiere in der Schweiz: Der Gerichtshof für Menschenrechte stellt sich in einem deutlichen Urteil hinter eine Klage älterer Frauen, die von ihrem Land mehr Schutz verlangen. Das eröffnet neue Möglichkeiten.
Als die „Klimaseniorinnen“aus dem Gerichtssaal kamen, war der Jubel groß. Der Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte gerade entschieden, dass Staaten für Menschenrechtsverletzungen belangt werden können, wenn sie nicht genug für den Klimaschutz tun. Die Richterinnen und Richter verurteilten am Dienstag im französischen Straßburg die Schweiz, weil sie durch mangelnden Klimaschutz das Recht auf Familien- und Privatleben der Klägerinnen verletzt habe. Damit sprach der Gerichtshof erstmals ein Urteil in einer Klage, die für mehr Klimaschutz eintrat. Die Menschenrechtskonvention gewähre eine Verpflichtung der Staaten, die Bevölkerung vor den schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf Leben und Gesundheit zu schützen, so die Richter.
Die Klägerinnen hatten argumentiert, dass sie durch ihr Alter durch den Klimawandel besonders gefährdet seien, beispielsweise wegen extremer Hitzewellen. Die „Klimaseniorinnen“sind ein von Greenpeace unterstützter und initiierter Verein mit mehr als 2000 Mitgliedern in der Schweiz. Ihr Durchschnittsalter beträgt 73 Jahre. Die Co-Präsidentin des Vereins, Anne Mahrer, bezeichnete die Entscheidung als Genugtuung: „Seit neun Jahren kämpfen wir mit Unterstützung von Greenpeace für Klimagerechtigkeit. Nachdem uns
die Schweizer Gerichte nicht angehört haben, bestätigt nun der EGMR: Klimaschutz ist ein Menschenrecht.“Grünen-Bundestagsfraktionschefin Katharina Dröge sprach von einem historischen Erfolg.
Für Deutschland hat die Entscheidung Folgen, auch wenn ein Urteil des EGMR grundsätzlich nur das Land bindet, das verurteilt wurde. Denn die Menschenrechtskonvention, auf die sich der EGMR bezieht, ist für alle Länder des Europarats verpflichtend. Dazu zählen 46 europäische Staaten, neben
den EU-Mitgliedern auch andere große Länder wie die Türkei oder Großbritannien. Dass der EGMR nun so deutlich eine Verpflichtung der Länder für Klimaschutz aus der Menschenrechtskonvention ableitet, ist ein starkes Zeichen und könnte Türen für weitere Klagen öffnen – sowohl vor dem EGMR als auch vor nationalen Gerichten.
Die „Klimaseniorinnen“hatten unter anderem gerügt, dass die Schweiz keine geeigneten Gesetze erlassen habe, um den Klimawandel zu bekämpfen. Der Gerichtshof bemängelte unter anderem, das Land habe seine Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen in der Vergangenheit nicht erreicht. Die Behörden hätten nicht rechtzeitig und angemessen gehandelt, um entsprechende Gesetze auszuarbeiten.
Die Alpenrepublik muss dem Urteil unbedingt Folge leisten, bei der Umsetzung gibt es aber Entscheidungsspielraum. Denkbar ist, dass die Klägerinnen erneut in ihrem Heimatland vor Gericht ziehen, nachdem der EGMR auch entschieden hat, dass ihr Recht auf ein faires Verfahren in der Schweiz verletzt wurde. In jedem Fall muss die Schweiz den Klimaseniorinnen ihre Kosten in Höhe von 80.000 Euro erstatten. Schadenersatz für die erlittenen Menschenrechtsverletzungen hatten die Frauen nicht gefordert. Zwei andere Klimaklagen aus Frankreich und Portugal wurden vom Gerichtshof am Dienstag abgewiesen. Ein ehemaliger französischer Bürgermeister hatte geklagt, weil sein Heimatort am Ärmelkanal vom steigenden Meeresspiegel bedroht sei. Die Richterinnen und Richter erklärten seine Klage jedoch für unzulässig, weil er nicht mehr in dem Küstenort wohne. Es fehle ihm die sogenannte Opfereigenschaft, weil er nicht direkt oder indirekt von einer potenziellen Menschenrechtsverletzung betroffen sei.
Besonderes Augenmerk lag auch auf der Klage von sechs portugiesischen Jugendlichen. Sie hatten sich nach den verheerenden Waldbränden in ihrer Heimat 2017 entschlossen, nicht nur ihr Heimatland, sondern mehr als 30 andere europäische Staaten zu verklagen – darunter Deutschland. Die Richter entschieden aber auf Unzulässigkeit: Die Teenager hätten sich zuerst in Portugal durch die Instanzen klagen müssen, bevor sie den Gerichtshof anrufen. Außerdem gebe es in der Menschenrechtskonvention keine Grundlage dafür, dass Staaten außerhalb ihres Hoheitsgebiets derart weitreichend haftbar gemacht werden können. Eine 19-jährige Klägerin zeigte sich enttäuscht. „Aber das Wichtigste ist, dass der Gerichtshof im Fall der Schweizer Frauen gesagt hat, dass die Regierungen ihre Emissionen stärker reduzieren müssen, um die Menschenrechte zu schützen. Ihr Sieg ist also auch ein Sieg für uns und ein Sieg für alle!“
Straßburg hat selten ein so großes Interesse an einem Verfahren gesehen. Welch große Bedeutung die Richter den Prozessen zuwiesen, zeigte sich bereits daran, dass alle drei Verfahren vor der Großen Kammer mit einer besonderen Priorität entschieden wurden. Schon am Morgen gab es Solidaritätsbekundungen vor dem Gebäude. Zur Urteilsverkündung reisten mehrere Hundert Menschen an, auch die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg. (dpa)