Weckruf an alle Demokraten
Frühere Staatspräsidenten sorgen sich um Europa – Gefahr durch Rechtspopulisten
FRIEDRICHSHAFEN - Selten bietet sich die Gelegenheit, dass Studenten Lehrstunden in praktischer Politik mit zwei Ex-Staatspräsidenten erleben. An diesem Freitag, beim Bodensee Business Forum in Friedrichshafen, haben Alt-Bundespräsident Christian Wulff und der ehemalige serbische Staatspräsident Boris Tadic sichtlich Gefallen daran, in der Zeppelin Universität nicht nur Studenten, sondern auch 300 Teilnehmern der Veranstaltung ein paar Hintergründe zu erklären.
Beide bewerten die Zukunft der europäischen Idee skeptisch. Wulff hat bereits am Vormittag eine „Hallowach-Rede“gehalten und die Zuhörer aufgefordert, Europa als Zukunft und Chance der Demokraten zu gestalten. Moderator Hendrik Groth, Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“, bittet darum, auf Statements zu verzichten, der Dialog stehe jetzt im Vordergrund.
Themen gibt es genug, schließlich steht die Überschrift „Wohin steuert die Welt?“über dem Nachmittag. Wulff, der fünf Jahre nach seinem Rücktritt langsam aber sicher in die Rolle eines deutschen „elder statesman“hineinwächst, wirkt nachdenklich. Zwar weiß er nicht auf alle Weltprobleme Antworten. Doch ein paar gute Argumente gibt Wulff seinen Zuhörern mit auf den Weg, die beispielsweise wissen wollen, welche Projekte er mit der Zinsersparnis im Staatshaushalt finanzieren würde. „Bildung“, ist sich der Alt-Bundespräsident sicher, „Bildung wirft immer noch die besten Zinsen ab.“Der Politiker, der nicht wiedergewählt werden will und der seine Meinungsfreiheit genießt, hat noch eine weitere, wohl nicht sehr populäre Idee: „Im Umgang mit Griechenland sind Fehler gemacht worden, die Zinsersparnis aus Berlin könnte jetzt nach Athen weitergegeben werden.“
Boris Tadic, er war von 2004 bis 2012 serbischer Staatspräsident, stellt sich in der lockeren Atmosphäre bei der von „Schwäbisch Media“präsentierten Veranstaltung den Fragen nach der Zukunft Europas. Groth erinnert ihn an seine Aussage, dass der EU die strategische Ausrichtung fehle. Tadic spielt den Ball in Richtung Berlin: „Die Rolle Deutschlands ist extrem wichtig“, sagt er, aber die nach Dominanz strebende Politik der Bundesregierung werde im Ausland immer kritischer gesehen: „Ignorieren Sie die Gefahren nicht, die sich entwickeln könnten.“
Und Tadic fordert dazu auf, den Blick über die Grenzen Europas zu richten. „Bis 2050 wird sich die Bevölkerung Afrikas verdoppeln“, rechnet er vor und fragt: „Wo liegt dann der deutsche Altersdurchschnitt? Wo liegt er heute?“Es liege auf der Hand, dass sich eine sehr junge afrikanische Bevölkerung ohne echte Perspektive auf den Weg in ein altes, aber reiches Europa machen werde. Europa habe keine Antwort.
Wie nachdenklich Alt-Bundespräsident Wulff ist, war am Vormittag deutlich geworden. Er warnte vor existenziellen Gefahren für Europa und Europa: Die derzeitige Phase des Wohlstands könne schon bald enden, sollten sich die demokratischen Kräfte nicht gegen Rechtspopulismus, Diktatur und Willkür stemmen. „Wer in der Demokratie schläft, wacht in einer Diktatur wieder auf “, sagte Wulff. Die Parallelen zur Entwicklung in Deutschland Anfang der 1930er-Jahres seien unübersehbar.
Geteilte Gesellschaft
In seiner Rede vor Studenten der Zeppelin-Universität und etwa 300 Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft wies Wulff darauf hin, „dass wir in einer im Verhältnis 50 zu 50 geteilten Gesellschaft leben.“Der Brexit sei von der Hälfte der britischen Wähler beschlossen worden. Der neue US-Präsident Donald Trump habe zwar weniger als die Hälfte der Stimmen bekommen, aber die Mehrheit der Wahlmänner hinter sich. Zu den Studenten gewandt sage Wulff: „Die jungen Leute in Großbritannien hatten den Eindruck, dass es sich nicht lohnt, Nein zu sagen, darum sind sie nicht zur Abstimmung gegangen.“Die ältere Generation habe somit über die Zukunft der Jungen bestimmt.
Die europäische Gesellschaft müsse angesichts dieser Herausforderungen aufpassen, ihre Werte nicht zu verlieren. „1989, das Jahr der Wende, war vielleicht das glücklichste Jahr Europas“, gab Wulff zu bedenken, „die 27 Jahre danach sind vielleicht nur ein Wimpernschlag in der Geschichte des Kontinents.“Demokraten seien aufgefordert, „Trump und Putin als Weckrufe zu betrachten.“
Am Nachmittag verstärkten sich im Forum „Europa braucht mehr Demokratie“die skeptischen Töne in Bezug auf die europäische Zukunft. Beispielsweise weiß der Wirtschaftspublizist und Unternehmensberater Markus Will: „Die EU hat noch nie darüber diskutiert, wohin es politisch künftig gehen soll.“Den europäischen Institutionen fehle eine Idee zur Zukunft über die wirtschaftliche Zusammenarbeit hinaus.
Die nächsten zwölf Monate werden entscheidend für die EU-Zukunft sein, darin sind sich die Präsidenten Wulff und Tadic, der Berater Will und der Journalist Schneider in den beiden Foren einig. Die Aussichten seien alarmierend. Wahlen in den Niederlanden und Frankreich mit guten Chancen für Rechtsextreme, dann die Bundestagswahl mit dem wahrscheinlichen Einzug der AfD ins Berliner Parlament. Die Europagegner sind auf dem Vormarsch. Wulff blickt nach Westen, auf die Möglichkeit, dass die Front-National-Frau Marine Le Pen die Wahl gewinnen könnte: „Wenn Frau Le Pen in Frankreich Präsidentin würde, wäre Europa am Ende.“
Am Ende der Lehrstunde steht ein Ausblick. Wird Europa kippen? Boris Tadic macht es kurz: „Ich bin skeptisch, nicht pessimistisch.“