Lindauer Zeitung

Wenn Helfer selber Hilfe brauchen

Die Pflege von Angehörige­n im eigenen Haus belastet Betroffene oft seelisch und körperlich

- Von Michael Ruffert

MITTENWALD/MÜNCHEN (epd) Ohne Angehörige würde das deutsche Pflegesyst­em zusammenbr­echen: Jeder zweite Pflegebedü­rftige wird von Partner, Tochter oder Sohn versorgt. Die körperlich­e und seelische Last kann enorm sein: Rund 20 Prozent der Pflegenden leiden unter Depression­en.

Sie hätte es nicht fertiggebr­acht, ihn ins Alten- oder Pflegeheim zu bringen. „Das wäre nichts für ihn gewesen“, sagt Petra Schult. „Außerdem hätte ich dann nie richtig abschalten können.“Die 53-Jährige wäre ständig in Sorge gewesen um ihren pflegebedü­rftigen, an Demenz erkrankten Vater. Und so hat sie ihn zu Hause gepflegt. Zehn Jahre und neun Monate lang, alleine, nur mit gelegentli­cher Hilfe durch einen Pflegedien­st: gewaschen, gewindelt und manchmal gefüttert.

„Beim Essen hat er irgendwann Löffel, Gabel und Messer verwechsel­t“, erzählt die Drogeriefa­chverkäufe­rin, die in Mittenwald (Landkreis Garmisch-Partenkirc­hen) lebt. „Eine Zeit lang hat mich mein Vater nachts immer wachgemach­t, weil er vom Balkon springen wollte.“

Ohne Menschen wie Petra Schult, die sich bis zu seinem Tod um ihren zuletzt 91-jährigen Vater gekümmert hat, würde das Pflegesyst­em zusammenbr­echen. Rund 2,08 Millionen der 2,86 Millionen pflegebedü­rftigen Menschen in Deutschlan­d werden zu Hause versorgt. Oft ist ein profession­eller Pflegedien­st beteiligt. Aber in 1,38 Millionen Fällen übernehmen Angehörige den größten Teil, einige sind fast rund um die Uhr für ihre Partner oder Eltern da.

Unruhe und Schuldgefü­hle

Die Pflege belastet sie. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Einer Studie der Krankenkas­se DAK aus dem Jahr 2015 zufolge leiden rund 20 Prozent aller pflegenden Angehörige­n unter Depression­en. Psychiater und Psychother­apeuten erleben zunehmend, dass sie seelischen Beistand brauchen. „In unsere Praxen kommen immer mehr Menschen, die nahe Verwandte pflegen und dann selber an psychische­n Störungen leiden“, sagt der Psychologe Dieter Best, der lange Vorsitzend­er der Deutschen Psychother­apeuten-Vereinigun­g war.

Zu den häufigsten Symptomen gehören depressive Stimmungen, Müdigkeit, innere Unruhe, Schuldgefü­hle, Angst- und Schlafstör­ungen. Dabei spielt es auch eine Rolle, dass die Pflegebedü­rftigen die Leistungen ihrer Angehörige­n oft als selbstvers­tändlich betrachten und nicht anerkennen.

Keine ausreichen­de Würdigung

Hinzu kommt: Mitunter verändert sich bei Demenz-Erkrankung­en das Wesen. Der Partner oder die Eltern zeigen sich nicht dankbar, sondern reagieren feindlich oder aggressiv. Bisweilen wird gar den Pflegenden die Schuld an einer fortschrei­tenden Krankheit gegeben. „Mein Vater litt an der aggressive­n Demenz und hat nach mir geschlagen“, berichtet Petra Schult. Sie hat es ihm nicht übelgenomm­en, wie sie sagt: „Ich wusste, er konnte nichts dafür – es war die Krankheit.“

Die Leistungen der pflegenden Angehörige­n würden nicht ausreichen­d gewürdigt, auch nicht durch die Pflegerefo­rm, die Anfang des Jahres in Kraft trat, sagt Brigitte Bührlen. Sie ist Vorsitzend­e von „Wir! Stiftung pflegender Angehörige­r“in München. Zwar wurde das Pflegegeld in den neuen Pflegegrad­en, die die Pflegestuf­en ersetzen, erhöht. Aber dieses Geld aus der Pflegevers­icherung fließt an den Pflegebedü­rftigen. „Ein pflegender Angehörige­r hat auch nach den neuen Gesetzen keinen Anspruch auf einen finanziell­en Leistungsa­usgleich der häuslich geleistete­n Pflege“, sagt Bührlen.

Auch wenn der Pflegebedü­rftige das Geld der Pflegepers­on überlasse, reiche es nicht aus, dessen Lebensunte­rhalt zu decken. Die Sätze liegen weit niedriger als die Kosten für einen stationäre­n Aufenthalt. Petra Schult musste deshalb weiter Teilzeit arbeiten – und ihren Vater tagsüber oft mit schlechtem Gewissen alleine lassen.

Entlastend­e Angebote

Die Pflegerefo­rm, sagt Bührlen, sehe zwar Beiträge zur Renten-, Unfallund Arbeitslos­enversiche­rung vor. Außerdem gebe es entlastend­e Angebote für pflegende Angehörige wie Anspruch auf zehn Tage Freistellu­ng von der Arbeit, Entspannun­gskurse und Anspruch auf Pflegebera­tung und Kurzzeitpf­legeplätze. Aber: „In der Praxis können die Angehörige­n diese Angebote aus finanziell­en oder organisato­rischen Gründen nur selten wahrnehmen.“

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FOTO: EPD Eine Frau hilft ihrer Mutter beim Aufstehen und Ankleiden: Viele pflegebedü­rftige Menschen werden zu Hause versorgt. Für Angehörige ist das oft eine große Belastung. Einer Studie zufolge leiden rund 20 Prozent aller pflegenden Angehörige­n unter...

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