Wenn Helfer selber Hilfe brauchen
Die Pflege von Angehörigen im eigenen Haus belastet Betroffene oft seelisch und körperlich
MITTENWALD/MÜNCHEN (epd) Ohne Angehörige würde das deutsche Pflegesystem zusammenbrechen: Jeder zweite Pflegebedürftige wird von Partner, Tochter oder Sohn versorgt. Die körperliche und seelische Last kann enorm sein: Rund 20 Prozent der Pflegenden leiden unter Depressionen.
Sie hätte es nicht fertiggebracht, ihn ins Alten- oder Pflegeheim zu bringen. „Das wäre nichts für ihn gewesen“, sagt Petra Schult. „Außerdem hätte ich dann nie richtig abschalten können.“Die 53-Jährige wäre ständig in Sorge gewesen um ihren pflegebedürftigen, an Demenz erkrankten Vater. Und so hat sie ihn zu Hause gepflegt. Zehn Jahre und neun Monate lang, alleine, nur mit gelegentlicher Hilfe durch einen Pflegedienst: gewaschen, gewindelt und manchmal gefüttert.
„Beim Essen hat er irgendwann Löffel, Gabel und Messer verwechselt“, erzählt die Drogeriefachverkäuferin, die in Mittenwald (Landkreis Garmisch-Partenkirchen) lebt. „Eine Zeit lang hat mich mein Vater nachts immer wachgemacht, weil er vom Balkon springen wollte.“
Ohne Menschen wie Petra Schult, die sich bis zu seinem Tod um ihren zuletzt 91-jährigen Vater gekümmert hat, würde das Pflegesystem zusammenbrechen. Rund 2,08 Millionen der 2,86 Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden zu Hause versorgt. Oft ist ein professioneller Pflegedienst beteiligt. Aber in 1,38 Millionen Fällen übernehmen Angehörige den größten Teil, einige sind fast rund um die Uhr für ihre Partner oder Eltern da.
Unruhe und Schuldgefühle
Die Pflege belastet sie. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Einer Studie der Krankenkasse DAK aus dem Jahr 2015 zufolge leiden rund 20 Prozent aller pflegenden Angehörigen unter Depressionen. Psychiater und Psychotherapeuten erleben zunehmend, dass sie seelischen Beistand brauchen. „In unsere Praxen kommen immer mehr Menschen, die nahe Verwandte pflegen und dann selber an psychischen Störungen leiden“, sagt der Psychologe Dieter Best, der lange Vorsitzender der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung war.
Zu den häufigsten Symptomen gehören depressive Stimmungen, Müdigkeit, innere Unruhe, Schuldgefühle, Angst- und Schlafstörungen. Dabei spielt es auch eine Rolle, dass die Pflegebedürftigen die Leistungen ihrer Angehörigen oft als selbstverständlich betrachten und nicht anerkennen.
Keine ausreichende Würdigung
Hinzu kommt: Mitunter verändert sich bei Demenz-Erkrankungen das Wesen. Der Partner oder die Eltern zeigen sich nicht dankbar, sondern reagieren feindlich oder aggressiv. Bisweilen wird gar den Pflegenden die Schuld an einer fortschreitenden Krankheit gegeben. „Mein Vater litt an der aggressiven Demenz und hat nach mir geschlagen“, berichtet Petra Schult. Sie hat es ihm nicht übelgenommen, wie sie sagt: „Ich wusste, er konnte nichts dafür – es war die Krankheit.“
Die Leistungen der pflegenden Angehörigen würden nicht ausreichend gewürdigt, auch nicht durch die Pflegereform, die Anfang des Jahres in Kraft trat, sagt Brigitte Bührlen. Sie ist Vorsitzende von „Wir! Stiftung pflegender Angehöriger“in München. Zwar wurde das Pflegegeld in den neuen Pflegegraden, die die Pflegestufen ersetzen, erhöht. Aber dieses Geld aus der Pflegeversicherung fließt an den Pflegebedürftigen. „Ein pflegender Angehöriger hat auch nach den neuen Gesetzen keinen Anspruch auf einen finanziellen Leistungsausgleich der häuslich geleisteten Pflege“, sagt Bührlen.
Auch wenn der Pflegebedürftige das Geld der Pflegeperson überlasse, reiche es nicht aus, dessen Lebensunterhalt zu decken. Die Sätze liegen weit niedriger als die Kosten für einen stationären Aufenthalt. Petra Schult musste deshalb weiter Teilzeit arbeiten – und ihren Vater tagsüber oft mit schlechtem Gewissen alleine lassen.
Entlastende Angebote
Die Pflegereform, sagt Bührlen, sehe zwar Beiträge zur Renten-, Unfallund Arbeitslosenversicherung vor. Außerdem gebe es entlastende Angebote für pflegende Angehörige wie Anspruch auf zehn Tage Freistellung von der Arbeit, Entspannungskurse und Anspruch auf Pflegeberatung und Kurzzeitpflegeplätze. Aber: „In der Praxis können die Angehörigen diese Angebote aus finanziellen oder organisatorischen Gründen nur selten wahrnehmen.“