Auch junge Flüchtlinge haben Recht auf Bildung
Bei angeordneter Ausreise, etwa bei Afghanen, hat staatliches Landratsamt jedoch keinen Spielraum
Bei angeordneter Ausreise hat Landratsamt keinen Spielraum
LINDAU (ee) - Mit sechs Berufsintegrationsklassen bietet die Lindauer Berufsschule inzwischen fast jedem Flüchtling unter 21 Jahren einen Platz, um seine Schulpflicht in Bayern zu erfüllen. Nicht jeder dieser jungen Leute sitzt aber mit der Motivation im Unterricht, die sich die Lehrkräfte wünschen würden. Die Pädagogen vermuten, dass bei einigen ihrer Schüler mangelnde Perspektiven Grund dafür sind. Für den zuständigen Landratsamtsjuristen Tobias Walch ist jedoch nicht nur die Chance auf ein Bleiberecht ausschlaggebend. Vielmehr sei mancher junge Flüchtling auch „recht blauäugig“nach Deutschland gekommen. LZ-Redakteurin Evi Eck-Gedler hat mit Walch und dem Fachbereichsleiter Ausländerrecht, Silvio Schneidereit, über die aktuelle Situation junger Flüchtlinge im Kreis Lindau und deren Zukunftschancen gesprochen.
Herr Walch, wie ist die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge derzeit? Wie viele versuchen, über Lindau nach Deutschland einzureisen? Wie viele übergibt die Bundespolizei durchschnittlich pro Monat an das Jugendamt?
Walch: Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Ausländer variiert von Monat zu Monat. Im Oktober und November waren es jeweils rund zwei Dutzend, im Dezember 41 und im Januar rund ein Dutzend.
Bleiben diese jetzt grundsätzlich im Kreis Lindau? Oder welcher Anteil davon wird in andere Landkreise und Bundesländer verlegt?
Walch: Diese jungen Leute bleiben nicht mehr grundsätzlich in unserem Landkreis. Lindau hat den sogenannten Königssteiner Schlüssel mehr als erfüllt. Deswegen werden 90 Prozent der unbegleiteten Minderjährigen in andere Landkreise weitergegeben. Lediglich jene, die aus gesundheitlichen oder psychischen Gründen nicht weiterverteilt werden können, bleiben hier oder in direkter Nachbarschaft, etwa im Oberallgäu. Letzteres gilt speziell für Mädchen, für die kein Platz in den Unterkünften im Kreis vorhanden war, aber auch schwangere junge Frauen.
Die Schulleitung geht davon aus, dass die Lindauer Berufsschule ab Februar noch mehr junge Flüchtlinge unterrichten muss, die so gut wie kein Deutsch können – weil seit diesem Jahr „alternative Maßnahmen“des Landkreises Lindau nicht mehr stattfinden. Welche Maßnahmen waren das? Wieso gibt es diese nicht mehr?
Walch: Die Berufsschule ist für alle berufsschulpflichten Zuwanderer zuständig. Dies gilt ungeachtet der Vorbildung, der Alphabetisierung oder der Deutschkenntnisse. Das Übergangssystem Alpha-Plus und Deutsch-Plus hat der Landkreis 2014/2015 aus eigenen Haushaltsmitteln aufgebaut, weil die BerufsinteMotivation grationsklassen in Lindau erst im März 2015 starteten. Jetzt gibt es in Lindau sechs solcher Klassen und damit Platz für jeden jungen Flüchtling. Damit besteht kein Bedarf mehr für ein paralleles Überbrückungssystem.
Grundsatz des vom Kultusministerium erlassenen Lehrplans für die BIJ ist ja, dass die jungen Flüchtlinge in zwei Jahren Ausbildungsreife erreichen sollen – was geschieht mit den Jugendlichen/jungen Erwachsenen unter 21 Jahren, die das nicht schaffen?
Walch: Der Landkreis ist bemüht, lückenlose Hilfesysteme zu installieren. Er hat deshalb die sozialpädagogische Betreuung dieser jungen Leute in die Hände der Jugendberufshilfe und somit des Kreisjugendrings gegeben. Jobcenter und Arbeitsagentur sind angehalten, diese Klassen in ihr Absolventenmanagement aufzunehmen. Deshalb wurde mit dem neuen Leiter des Jobcenters Ende Januar besprochen, dass die Berufsberater der Arbeitsagentur die Klassen parallel zur Berufsjugendhilfe begleiten. Mit dem Kreisjugendringprojekt „Jugend im Fokus“gibt es darüber hinaus ein gut funktionierendes Hilfesystem, das junge Menschen aus allen Herkunftsländern begleitet.
Lehrkräfte der Berufsschule beobachten, dass etliche der jungen Flüchtlinge zum Teil deutlich weniger motiviert sind als jene, die vor zwei Jahren dort unterrichtet wurden – weil diese Jugendlichen heute keinen Sinn sehen sich zu engagieren und integrieren, wenn sie ohnehin davon ausgehen müssen, dass sie aus Deutschland abgeschoben werden.
Walch: Diese teilweise sinkende hat nicht nur politische Hintergründe. Die Jugendlichen beginnen auch, ihre Perspektiven realistischer zu sehen. Manche sind doch sehr blauäugig nach Deutschland gekommen und müssen nun erkennen, dass es ein sehr steiniger Weg ist, hier bleiben zu dürfen und sich zu integrieren. Sie müssen die gesellschaftlichen Realitäten in unserem Land erkennen und auch, dass es ein Unterschied ist, sich irgendwie auf Deutsch zu verständigen oder dann die Sprache in Betrieb und Berufsschule zu sprechen und zu verstehen. Schneidereit: Vor den Sommerferien habe ich alle damals fünf Integrationsklassen besucht und dort, ich nenne es mal Motivationsreden gehalten. Ich habe den jungen Flüchtlingen realistisch ihre Perspektiven aufgezeigt und ihnen auch erklärt, dass es nicht nur vom Ausgang ihrer Asylverfahren abhängt, ob sie in Deutschland bleiben dürfen. Walch: Dass jetzt mehr nicht so motivierte Schüler in diesen Klassen sitzen, hängt auch damit zusammen, dass jetzt insgesamt dort mehr junge Leute unterrichtet werden und deren Hintergrund eine sehr große Bandbreite vorweist – von jungen Syrern, die in ihrer Heimat bereits die Hochschulreife erreicht und teilweise vor ihrer Flucht sogar schon studiert haben, bis zu Afrikanern, die noch nie eine Schule besucht haben. Das ist ein Spagat für alle Betreuenden. Natürlich wirkt sich der Ablehnungsbescheid eines Asylantrags sicherlich nicht positiv auf die Motivation aus. Da kann man nur schwer etwas entgegensetzen.
Jugendliche welcher Nationen haben eine Chance, in Deutschland bleiben zu dürfen?
Walch: Da muss man zunächst unterscheiden, ob es sich um Minderjährige unter 18 Jahren handelt oder um Heranwachsende bis 21 Jahre. Wichtig ist auch, ob die Jugendlichen allein nach Deutschland gekommen sind oder mit erwachsenen Angehörigen. Unbegleitete Minderjährige werden grundsätzlich in Deutschland geduldet und vom Jugendamt in Obhut genommen. Wer begleitet nach Deutschland gekommen ist, teilt das Schicksal der Eltern: Hat deren Asylantrag Erfolg, dürfen auch die Jugendlichen bleiben. Mit Erreichen der Volljährigkeit sind die jungen Leute im ausländerrechtlichen Sinne selbstständig zu betrachten. Schneidereit: Wenn Jugendliche und Heranwachsende sich seit vier Jahren ununterbrochen in Deutschland erlaubt, geduldet oder gestattet aufgehalten und regelmäßig erfolgreich die Schule besucht oder sogar einen Schulabschluss geschafft haben, und die Integration aufgrund von Ausbildung und Lebensverhältnissen als gesichert gilt, dann kann der Aufenthalt verfestigt werden. Aufgrund der zwischenzeitlich deutlich verkürzten Asylverfahrensdauer ist das bei uns jedoch eher selten der Fall. Walch: Die Anerkennungsquoten aus dem Jahr 2015, jüngere Zahlen liegen noch nicht vor, zeigen, dass rund 90 Prozent der Flüchtlinge aus Eritrea, Syrien sowie Irak/Iran als Asylsuchende anerkannt werden. Bei jenen aus Afghanistan ist es nur Tobias Walch jeder Zweite, bei Flüchtlingen aus Somalia nur jeder Vierte. Und von den Pakistani darf nur knapp jeder Fünfte in Deutschland bleiben. Wer bereits in Ausbildung ist, für den gilt bei einem ablehnenden Bescheid dann in der Regel, dass er diese abschließen und danach noch zwei Jahre hier arbeiten darf. Anschließend wird geprüft, ob er die Voraussetzungen erfüllt fürs Erteilen eines sogenannten regulären Aufenthaltstitels, etwa aufgrund seiner Erwerbstätigkeit.
Wenn zum Beispiel für junge Afghanen oder Somalier kein Bleiberecht in Aussicht ist, machen dann Schulbesuch und Deutschkurse überhaupt Sinn?
Walch: Wir handeln mit der Überzeugung, dass jeder Mensch im Landkreis das Recht auf Bildung hat. Hier machen wir keinen Unterschied. Auch junge Flüchtlinge haben ein Recht auf Bildung. Und in Bayern gilt nun mal die Berufsschulpflicht, auch für Asylsuchende in diesem Alter. Bildung und Spracherwerb machen in jedem Fall Sinn. Sie sind unter anderem teilweise Voraussetzung für den Fall, dass ein abgeschobener Asylbewerber später legal im geregelten Visa-Verfahren wieder nach Deutschland einreisen kann. Aber auch in ihren Heimatländern bietet die hier erworbene Bildung den jungen Leuten ein gutes Fundament.
Kann ein abgeschlossener Ausbildungsvertrag die Abschiebung – zumindest für einige Jahre – verhindern?
Walch: Gemäß Weisung des bayerischen Innenministeriums schützt erst der Beginn einer Ausbildung vor Abschiebung. Wir gehen dabei von einer Vorwirkzeit von drei bis vier Wochen aus, dass also junge Flüchtlinge im Monat vor Beginn der Lehre Deutschland nicht mehr verlassen müssen.
Stimmt es, dass junge Flüchtlinge trotz eines unterschriebenen Ausbildungsvertrages Deutschland verlassen müssen?
„Bildung und Spracherwerb machen in jedem Fall Sinn.“
Schneidereit: Da die Berufsausbildung meist erst im September beginnt, weil sie an den Berufsschulunterricht gekoppelt sind, können Heranwachsende in der Zeit zwischen der Unterschrift unter ihrem Lehrvertrag und etwa Juli durchaus einen Ausreisebescheid erhalten.
Wie viel Handlungsspielraum hat der Landkreis Lindau, um in solchen Fällen Ausnahmen zu ermöglichen?
Schneidereit: Keinen. Zum Teil sind wir für die Fälle gar nicht selbst zuständig, sondern die zentrale Ausländerbehörde bei der Regierung von Schwaben. Und wo wir zuständig sind, gelten für uns die gesetzlichen Regelungen und die Weisungslage des Ministeriums, an die wir gebunden sind.