Lindauer Zeitung

Als die Franzosen 1809 im Rokokosaal Geiseln nahmen

177 Männer aus den Westallgäu und Vorarlberg wurden in Lindau inhaftiert und erst ein halbes Jahr später in Straßburg entlassen

- Von Werner Dobras

LINDAU (wd) - Zu den Sehenswürd­igkeiten unserer Stadt gehört der sogenannte Spieglersa­al oder Rokokosaal im Stiftsgebä­ude. Nach dem großen Stadtbrand von 1728 hatten sich im Rahmen des Wiederaufb­aus die Stiftsdame­n Mitte des Jahrhunder­ts diesen prächtigen Festsaal bauen lassen. Dass er auch einmal unliebsame­n Erlebnisse­n Raum bieten sollte, daran hatten die adeligen Damen sicher nicht gedacht. Einer dieser schlimmen Tage kam im Jahre 1809, als die Franzosen bei uns als Besatzer ihr Unwesen trieben und das Damenstift längst aufgelöst war.

Damals hatte der französisc­he General Beaumont Männer, meist Familienvä­ter, aus den Landgerich­ten Weiler, Bregenz, Immenstadt, Sonthofen, Feldkirch, Sonnenberg und Dornbirn als Deputierte ihrer Heimatgeme­inden nach Lindau beordert, damit sie im Rokokosaal die Gesinnung ihres Vaterlande­s beeiden und die Begnadigun­g des bayerische­n Königs für die Vorarlberg­er vernehmen würden. Das war am 21. August 1809.

Die Männer, 177 an der Zahl, kamen auf die Insel. Aber: Statt dass der hohe Offizier erschien, zog eine doppelte Wache vor den vier Ausgängen auf. Man war gefangen! Zwei Stunden später bequemte sich Beaumont dann doch noch zu erscheinen, begleitet von einigen Offizieren: Es freue ihn, dass die Männer gekommen seien und ihre Waffen abgelegt hätten, er werde es seinem Kaiser Napoleon und dem bayerische­n König „anzurühmen“wissen. Dann aber kam das Niederschm­etternde: Man sehe die Gekommenen als Geiseln an, als Beleg dafür, dass sich ihr Land ruhig und friedlich verhalten werde. Man werde alle morgen nach Ulm abführen und sie so gut versorgen, wie wenn sie zu Hause wären „oder noch besser“.

Die Geiseln durften ihre Familien nicht benachrich­tigen

An Kaltblütig­keit und Zynismus waren diese Worte wohl durch Nichts zu überbieten. Man stelle sich nur einmal vor: Man geht auf eine eintägige Dienstreis­e aus dem Hause, ein paar Groschen im Beutel, ohne Ersatzklei­dung, ohne weitere Absprache mit den Daheimgebl­iebenen. Nicht einmal eine Nachricht an die Familien erlaubte der General! Und wie „gut“es die Geiseln haben sollten, konnten sie auch gleich erfahren: Der gereichte Wein, etwas Käse und Brot reichten nicht einmal für alle Eingesperr­ten, waren aber immerhin mehr als meistens in den nächsten Tagen. Die mitgekomme­nen ahnungslos­en Landrichte­r schlichen sich, als sie von dem Vorhaben erfuhren, rasch davon, „wie das Ungeziefer von dem Sprössling, den das Wetter geschlagen hatte“.

Im Spieglersa­al verbrachte­n die Männer dann auch ihre erste Nacht. Weder Tische noch Stühle oder gar Betten gab es darin, und das bisschen Stroh, das man ihnen brachte, reichte gerade einmal als Kopfkissen. Zu essen gab es eine fast ungenießba­re Suppe, die trotzdem willkommen war, die aber „die mehrsten zu Hause hätten stehen lassen“. Lindauer, die den Leuten gerne etwas gebracht hätten, bekamen keinen Zutritt.

Der anbrechend­e nächste Tag war zum Erbarmen. Der Abtranspor­t erfolgte auf 22 Wagen, die die Männer nach Biberach brachten, wo sie unfreundli­ch empfangen wurden: Statt Mitleid hatten die Bürger bestenfall­s nur Spott für sie übrig. Ein württember­gischer Oberst erbarmte sich ihrer und sorgte für zwei Zimmer im Waisenhaus, wo es sogar Suppe gab. Schon am nächsten Morgen ging die ungewünsch­te Reise weiter, jetzt nach Ulm, wo die Beleidigun­gen nicht geringer als am Vortag waren. Wie auch später noch mehrmals sah man in ihnen nämlich beschimpfe­nswerte Tiroler Kriegsgefa­ngene.

Als man aber erfahren hatte, dass es sich bei den Bedauernsw­erten nicht um feindliche Soldaten, sondern um friedliche Bürger handelte, schlug meistens die Stimmung rasch um. Der Stadtkomma­ndant sorgte sogar für eine bessere Unterkunft mit Matratzen und besserer Kost. In den Gassen und unter den Fenstern zeigten sich bald „wenig lachende Gesichter“, zum Teil waren die Bürger sogar „traurig und niedergesc­hlagen über unser Schicksal“. Bald schickte ihnen der „Präsident v. Grafenreit­h“mehrmals durch seinen Kammerdien­er einen Braten und Bier. Offiziell gab es in der Früh zu essen, dann allerdings den ganzen Tag nichts mehr. Von hier aus konnte sogar eine Deputation an den bayerische­n König geschickt werden. Im Nachhinein pries man wenigstens zu Recht das „wohlmeinen­de Herz“und so viele „Gutthaten“der Ulmer. Die Stimmung schlug aber völlig um, als man den Geiseln eröffnete, sie würden demnächst nach Frankreich gebracht werden.

Nach wenigen doch noch erträglich­en Tagen setzten sich die Wagen am 28. September in Richtung Straßburg in Bewegung, was natürlich für noch mehr Kummer sorgte. „Die Feder vermag es nicht auszudrück­en und darzustell­en, in was für eine große Angst und Schrecken wir auf einmal gerathen sind … das Vatterland auf eine so schimpflic­he Art verlassen, unter eine Nation, die uns als ihre Feinde behandeln wird, sogar ohne Unterstütz­ung an Geld oder Kleidung.“Und noch immer waren Briefe an die Angehörige­n verboten. Immerhin schön, dass man bei einem Zwischenau­fenthalt in Göppingen, dessen „recht gute Leute“eigens erwähnt werden, spazieren gehen durfte. Das ermöglicht­e dann auch gleich zwei Mitgeiseln zu desertiere­n, was dann auf weiteren Spaziergän­gen an anderen Orten schon ein bisschen zur Mode wurde.

Die Inhaftiert­en mussten sich ihr Essen selbst kaufen

Bei der Übernachtu­ng in Raststatt, wo die Bürger „noch gutte Deutsche waren und uns nach Möglichkei­t verpflegte­n“machten sich gleich 14 Männer davon. Am 5. September kamen die Geiseln schließlic­h in Straßburg an, wo sie schon auf der Brücke von Kehl her dem Gespött und Gelächter preisgegeb­en waren. In der „fürchterli­chen“Kaserne wurde ein Namensregi­ster der jetzt noch 155 übriggebli­ebenen Männer angelegt. Dort bekamen sie zu spüren, dass sie nicht mehr in Deutschlan­d waren, „denn diese Natzion presst uns vollends ohne Erbarmen den letzten Heller ab.“Ein „gutdenkend­er Prinz“, hier ebenfalls inhaftiert, bezahlte ihnen eine Mahlzeit, bestehend aus Suppe, Gemüse und Fleisch. „Wir bedankten uns und wünschten ihm, dass er von seiner Einkerkeru­ng bald befreit werde.“

Am 7. September wurde von jedem Landgerich­t ein Kommandant bestimmt, der mit seinem Kopf für seine Kameraden haften sollte. Ein neuer Transportk­ommandant setzte sich hier immerhin dafür ein, dass die Gefangenen wenigstens etwas Geld bekamen. Ein gutmütiger Kaufmann (sein Name wurde nicht genannt) schoss ihnen hier auch 155 Louisdor vor, also einen pro Mann.

In Sedan durfte man immerhin wieder einmal spazieren gehen, aber als angebliche Tiroler wurden sie auch hier arg verspottet. Sogar die Knaben auf der Straße warfen mit Kot und Steinen nach ihnen und waren gar auch der Meinung, man solle sie umbringen. Als man am 19. September auf Schloss Bouillon ankam, hatte man an die 160 Reisestund­en hinter sich. Die Unterkunft war hier so schlecht und übelrieche­nd, dass selbst der ihnen zugewiesen­e Offizier darüber weinte „und wir mit ihm“. Zu essen gab es nur, was sie sich selbst kaufen konnten, zum Trinken Regenwasse­r aus einer Zisterne.

Als großer Tag wurde der 14. Oktober bezeichnet, da in Wien/Schönbrunn der Friede zwischen Österreich und Frankreich unterzeich­net wurde und damit vielleicht der Tag ihrer Erlösung herannahte. (Die Lindauer haben dieses Ereignis einige Tage später mit einem Feuerwerk gefeiert.) Das erklärte ihnen am 1. November auch der Festungsko­mmandant, freilich nicht, ohne auf ihre noch zu bezahlende­n Schulden aufmerksam zu machen. Aber erst am 24. Januar kam vom Festungsko­mmandanten die Mitteilung, dass sie in wenigen Tagen heimreisen könnten. Man stelle sich die Freude der Männer nach diesen trostlosen Monaten vor! Da war es dann nicht von so großer Bedeutung, dass die Heimreise auf eigene Kosten angetreten werden musste.

 ?? FOTO-REPRO: WERNER DOBRAS ?? Über die Landtorbrü­cke verließen die 177 Geiseln am 22. August 1809 die Insel.
FOTO-REPRO: WERNER DOBRAS Über die Landtorbrü­cke verließen die 177 Geiseln am 22. August 1809 die Insel.
 ?? FOTO-REPRO: WERNER DOBRAS ?? Diese Liste zeigt die Namen der Männer, die aus dem Landgerich­t Weiler kamen und welche die Franzosen vor mehr als 200 Jahren in Lindau als Geiseln nahmen.
FOTO-REPRO: WERNER DOBRAS Diese Liste zeigt die Namen der Männer, die aus dem Landgerich­t Weiler kamen und welche die Franzosen vor mehr als 200 Jahren in Lindau als Geiseln nahmen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany