Lindauer Zeitung

Unter Todesangst geflohen

In Syrien gekidnappt­er UN-Mann begegnet im Oberlandes­gericht Stuttgart seinem mutmaßlich­en Peiniger

- Von Christoph Plate, Stuttgart-Stammheim

Masera, Abu Jaffar, Abu Hussein und Abu Malela, Abu Muhammed und Abu Yasser, so hätten seine Wächter in den acht Monaten Geiselhaft geheißen, sagt Carl Campeau, ein Mann mit weichem Gesicht, dicken Brillenglä­sern und einer Halbglatze. Immer mal hätten seine Aufpasser gewechselt, der eine sei gebildet gewesen, der andere sadistisch, einer habe ihn vor dem sicheren Tod bewahrt, ein anderer einen Fernseher in der Gefangensc­haft besorgt. Wieder ein anderer habe sich darüber empört, dass er seine französisc­he Ausgabe des Korans mit handschrif­tlichen Anmerkunge­n versehen habe. Außerdem habe es da noch einen Abu Jemen gegeben, dann den saudischen Scheich, der die pakistanis­chen Milizenche­fs abgelöst habe, schließlic­h Abu Saif und dann eben auch Abu Adam.

Und dieser Abu Adam ist auch hier in dem Gerichtssa­al, in dem vor 40 Jahren der deutsche RAF-Terrorismu­s verhandelt wurde, gleich neben dem Hochsicher­heitsgefän­gnis. Der Saal aus einer Zeit, in der man noch nicht wusste, wie man mit Sichtbeton schön bauen kann, ist mit beigem Teppichbod­en ausgelegt, die Zuschauer sitzen in altmodisch­en orangen Hartschale­n. Und zur Mittagszei­t zieht ein Geruch nach Kantinenes­sen durch den Saal, weil die Verpflegun­g für Richter, Ankläger und Verteidige­r angeliefer­t wird.

Kampfname Abu Adam

Wo einst Ulrike Meinhof und Andreas Baader saßen, sitzt heute Abu Adam, der bürgerlich Suliman al-S. heißt. Vor einem Jahr ist er in Backnang festgenomm­en worden. Dort lebte der anerkannte Asylbewerb­er, heute 25 Jahre alt, ein gedrungene­r Mann mit Islamisten­bart und schwarzem Haarzopf. Suliman al-S. soll als junger Kämpfer der NusraFront an der Entführung des Kanadiers Carl Campeau vor ziemlich genau vier Jahren beteiligt gewesen sein. Unter seinem Kampfnamen Abu Adam soll er in den ersten Monaten der Geiselhaft auf Campeau aufgepasst haben, bevor er über Tunesien, Libyen und Italien nach Deutschlan­d geflohen kam. Der Kanadier hat den Syrer auf Fotos erkannt, die ihm der kanadische Geheimdien­st vorgelegt hat.

Am Mittwoch saßen die beiden, die sich das letzte Mal vor vier Jahren in einem Landhaus südwestlic­h von Damaskus gesehen haben sollen, nur 15 Meter auseinande­r. Campeau tritt als Nebenkläge­r in diesem Staatsschu­tzverfahre­n auf. Als er in den Zeugenstan­d tritt, mustert ihn der Angeklagte interessie­rt von der Seite. Wie soll Campeau jemandem begegnen, der ihm Todesangst eingejagt hat, der aber auch darauf geachtet hat, dass er täglich seine zwei Mahlzeiten bekam?

Wäre da damals nicht die Sache mit seinem Knie gewesen, würde es dieses Verfahren vor dem 5. Strafsenat des Oberlandes­gerichts Stuttgart gar nicht geben. Aber der Kanadier Carl Campeau, juristisch­er Berater bei den Vereinten Nationen auf den Golanhöhen, brauchte nach einer Knieoperat­ion in Bayern dringend Physiother­apie. Nun gibt es nicht so viele Physiother­apeuten auf den Golanhöhen, dem von Israel seit 50 Jahren besetzten Gebirge, das eigentlich zu Syrien gehört. Und da die UN nun mal gut für ihre Mitarbeite­r sorgt, konnte der heute 52-jährige Mann an einem Sonntag im Februar 2013 von den Golanhöhen aus nach Damaskus fahren. Zur Physiother­apie. In Friedensze­iten wäre das ein wunderbare­r Ausflug gewesen, vorbei am Berg Hermon, durch Felder mit Weizen, Gurken und Olivenbäum­en. Aber in Syrien herrschte bereits Bürgerkrie­g, in einigen Landstrich­en südwestlic­h von Damaskus trieben sich Aufständis­che herum, die manche Beobachter Rebellen nennen, andere als Terroriste­n bezeichnen.

Campeau aber, dessen Frau und Kinder immer in Wien blieben, wenn er auf Einsätze in den Kosovo oder auf die Golanhöhen ging, geriet in der Stadt Khan Alsheh, auf halbem Wege nach Damaskus, in eine Straßenspe­rre. Der Ort sei voll gewesen, langsam habe sich das Auto durch die Menschenma­ssen im Stadtzentr­um geschoben, erinnerte sich Campeau am Mittwoch. Doch dann hätten hinter einer Kurve sechs oder sieben junge Bewaffnete gestanden. Die Männer, so stellte sich bald heraus, gehörten zur Jabhat al-Nusra, dem syrischen Ableger des Terrornetz­werks al-Kaida. Deren bis zu 8000 Mitglieder sollen mehrheitli­ch Syrer sein, Terrorismu­sexperten gehen davon aus, dass al-Nusra mittelfris­tig so gefährlich werden kann wie der „Islamische Staat“. Beide entstanden nach der amerikanis­chen Invasion im Irak und dem Sturz Saddam Husseins, beide wollen in der Levante ein Kalifat errichten.

Was in Stammheim erst wie ein schleppend­er Bericht über ein operiertes Knie daherkommt, verdichtet sich im Laufe der Stunden unter dem Vorsitz von Richter Herbert Anderer zu einer großen Erzählung über den Krieg in Syrien. Campeau, der heute an einem geheimen Ort im Ausland lebt und von LKA-Beamten auf dem Weg zur Gerichtsve­rhandlung geschützt wird, beschreibt mit Blick für das Detail, wie er in eine Villa außerhalb von Khan Alsheh verschlepp­t wurde, offenbar eines dieser Landhäuser, das sich Leute, die in Damaskus zu Wohlstand gekommen sind, gerne in ihren Heimatdörf­ern bauen lassen. „Die Möbel wurden vor die Fenster geschoben, ich sah kaum Tageslicht.“Die al-Nusra-Front richtete am Ort seiner Gefangensc­haft ein Ausbildung­slager ein, in dem Koranstund­en ebenso gegeben wurden wie Einweisung­en in Sprengstof­fattentate. Manchmal seien auch erschöpfte Kämpfer gekommen, um sich dort auf dem Land zu erholen.

Böser Witz

Im Laufe der Wochen konnte der kanadische Jurist die Eigenarten seiner Wächter immer besser einschätze­n, er wusste, wer intelligen­t war, so wie Abu Jaffar, der einen Universitä­tsabschlus­s hatte und erzählte, wie er über sechs Monate in einem Gefängnis täglich gefoltert worden sei. Und als Abu Malela einmal einen bösen Witz machte und der Geisel erklärte, wenn der Kopf ab sei, werde er mit ihm Fußball spielen, da beschwerte sich Campeau sogar und forderte bessere Behandlung ein.

Der Kanadier lässt die Anspannung erahnen, unter der er lebte und die immer größer werdende Angst, weil alle Anstrengun­gen der Entführer, die Geisel einzutausc­hen, im Nichts mündeten. Zunächst wurden zwei Millionen Dollar Lösegeld gefordert, dann sieben Millionen. Als die kanadische Regierung erklärte, sie zahle nicht bei Entführung­en, sei aber bereit, Milchpulve­r für syrische Kinder zu liefern, wurde die Lage in dem muffigen Zimmer im Landhaus bedrohlich. Auch die Versuche, Campeau gegen in Syrien oder den USA inhaftiert­e Kämpfer auszutausc­hen, scheiterte­n kläglich.

Irgendwann sah Carl Campeau keinen anderen Ausweg, als zum Islam zu konvertier­en. Zunächst musste er die religiösen Diskussion­en führen, wie sie im Nahen Osten typisch sind: ob er wirklich glaube, dass Jesus der Sohn Gottes gewesen sei. Campeau reagierte klug und sagte, Jesus sei ein Sohn Gottes so wie alle Männer. Aber das reichte den Fanatikern nicht und schließlic­h durchlief der UN-Mann alle Rituale, erklärte, dass Jesus nur ein Mensch gewesen sei. Als er dann als Muslim galt, habe einer gesagt, jetzt laufe er nicht mehr Gefahr, getötet zu werden.

Übertritt zum Islam

Abu Adam aber, der 25-jährige Angeklagte, sitzt im Gerichtssa­al unbeteilig­t dabei. Manchmal schaut er auf seine Fingernäge­l, als käme er gerade von der Maniküre. Zwischendu­rch lächelt er seine Münchner Anwältin an, die auch schon früher Angehörige von Terrorgrup­pen vertreten hat.

Sein Übertritt zum Islam hat Campeau schließlic­h die Flucht ermöglicht: Nach einem Morgengebe­t mit seinen Bewachern ging er wieder auf sein Zimmer und bemerkte, dass die Wächter vergaßen, die Tür hinter ihm zu verriegeln. Als die Terroriste­n auf das Nachbargru­ndstück zur morgendlic­hen Sportrunde gingen, sei er geflohen. Wenn Campeau seine Überlegung­en beschreibt, ob er eine Waffe mitnehmen soll oder nicht, wohin er laufen und wie er sich verhalten soll, kann es den Zuhörern einen Stein auf die Brust legen.

Flucht über Felder

Er habe sich einen arabischen Schal, früher nannte man das in Europa ein Arafat-Tuch, um den Kopf gewickelt, sei drei Stunden lang in einem trockenen Wasserkana­l durch die Felder gelaufen. „Manchmal kam ich den Bauern nahe, sie riefen ,Salam’ und ich grüßte zurück“, erinnerte er sich am Mittwoch in Stammheim. Und fügte dann noch hinzu, wie um all jenen im Gerichtssa­al zu erklären, die Krieg nicht aus eigenem Erleben kennen: Das Erstaunlic­he am Krieg sei, dass Menschen sich bekämpften und töteten und andere mitten im Krieg weiter ihrer Arbeit auf den Feldern nachgingen, weil sie überleben müssten.

Irgendwann stieß Campeau auf eine Stellung der syrischen Armee, wurde nach Damaskus gebracht und war einen Tag später zu Hause in Wien.

Als Campeau fertig erzählt hatte, stand Abu Adam auf und ließ sich wieder Handschell­en anlegen. Kommenden Montag soll der Kanadier weitererzä­hlen.

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FOTO: AFP Kämpfer der al-Nusra-Front 2015 in Aleppo. Mittelfris­tig, so Experten, könnte von ihr eine ähnliche Gefahr ausgehen wie vom „Islamische­n Staat“.
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FOTOS: DPA Peiniger und Opfer in Stammheim: Abu Adam (verdeckt) und der damals entführte Carl Campeau.
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