Einmal Heimkind, immer Heimkind
Das Schicksal der Betroffenen aus der Zeit bis in die 1960er-Jahre bewegt bis heute – Das Land Baden-Württemberg arbeitet das traurige Kapitel auf
KARLSRUHE (lsw) - „Liebe Mutti! Man hat mich jetzt von Flehingen nach Freistatt verlegt. Das liegt bei Bremen. Ich muss Torf stechen und ich werde es nicht mehr lange machen. Denn ich werde mit meinem Leben Schluss machen, es hat keinen Zweck mehr.“Das verzweifelte Kind, das diesen Brief Mitte der 1960erJahre schrieb, lebte weiter. Doch was war das für ein Leben? Zwangsarbeit, systematische Demütigung und Disziplinierung durch Schläge – für viele Heimkinder gehörte in den 1950erund 1960er-Jahren seelischer und körperlicher Missbrauch zum Alltag. Auch wenn es Waisenhäuser heute nicht mehr gibt und moderne Erziehungsheime nichts mit denen von damals gemein haben – das Leid der „vergessenen Kinder“ist für die in der Jugendarbeit Tätigen noch Mahnung bis heute.
Das Land Baden-Württemberg arbeitet das traurige Kapitel seit Jahren auf, unter anderem mit einer Wanderausstellung des Landesarchivs: „Verwahrlost und gefährdet? Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975“. Die solle zeigen, dass das Geschehene nicht vergessen wird, sagt Sozialminister Manfred Lucha (Grüne). „Sie ist uns zugleich eine Mahnung, dass sich so etwas nicht wiederholen darf.“
Die Ausstellung, die im Sommer 2015 startete, macht bis zum 30. März im Generallandesarchiv Karlsruhe Station. Erweitert ist sie durch Dokumente einer einzigartigen Sammlung von etwa 11 000 Schicksalen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er-Jahre. Der noch weitgehend ungehobene Archivschatz aus der Erziehungsanstalt Flehingen bei Karlsruhe umfasst rund 100 Regalmeter Zöglingsakten. „Sie dokumentieren lückenlos die Lebensumstände der Kinder in einem Jahrhundert“, sagt der Vizechef des Archivs, Jürgen Treffeisen. Eine Rarität. Andere Heimakten landeten schon mal im Müll.
Tausende der rund 800 000 Kinder und Jugendlichen in westdeutschen Heimen von Kommunen, Kirchen oder Landeswohlfahrtsverbänden litten unter seelischer und körperlicher Gewalt – auch in vielen der über 600 Einrichtungen im Südwesten. „Ein Übermaß an Gewalt war an der Tagesordnung“, weiß Sozialpädagogin Irmgard Fischer-Orthwein von der Beratungsstelle des Fonds Heimerziehung aus vielen Gesprächen mit Betroffenen. Die wollen manchmal einfach nur das Erlebte loswerden, weil sie ihre Heimvergangenheit aus Scham selbst der Familie verschwiegen haben.
Makel bleibt haften
Einmal Heimkind, immer Heimkind – „das ist noch heute eine ganz starke Stigmatisierung“, sagt sie. Betroffene hätten oft Schuldgefühle, weil sie ins Heim kamen. Dabei gelangte ein Kind bis in die 1960er-Jahre ganz schnell dorthin: „Es gab damals Kindesentzüge, nur weil ein Elternteil gestorben oder weil ein Kind unehelich geboren war“, berichtet der Vizechef des Landesjugendamtes, Reinhold Grüner. „Das war ein Makel.“Diese Kinder, aber auch schlechte Schüler, schwer erziehbare oder straffällige Jugendliche sollten im Heim vor Verwahrlosung geschützt werden.
Früh aufstehen, Gebet, Arbeit, Schule – wer nicht parierte, bekam zwei Tage „Hungerkost“und musste ins „Arrestlokal“. Dort ließen geschlossene Läden, ein winziger Luftschlitz und verschimmelte sowie vertrocknete Kotreste kaum Luft zum Atmen. Das wurde im Juli 1913 dann doch vom Großherzoglichen Bezirksarzt moniert.
„Zucht und Ordnung“lernten in Flehingen auch der 1944 im KZ Neuengamme hingerichtete kommunistische Widerstandskämpfer HansHeinrich Hornberger und der NSDAP-Reichstagsabgeordnete Herbert Haselwander. Auch wenn viele Heimkinder später ein ganz normales Leben führten – auffallend ist für Sozialpädagogin FischerOrthwein der große Anteil derjenigen, die in keinem Beruf Fuß fassen oder wegen körperlicher und seelischer Folgen nur eingeschränkt arbeiten konnten. Wegen Mangelernährung oder weil die Ohrfeigen im Heim einen bleibenden Hörschaden hinterließen.
Die Wanderausstellung soll Betroffenen bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit helfen. Sie ist für Reinhold Grüner vom Landesjugendamt auch „brandaktuell“: Weil sie aufzeigt, wie sich eine „strukturelle Form von Gewalt“etablieren kann, wenn niemand hinschaut.
Nach Aufdeckung der Missstände im Zuge der Studentenbewegung wurde der Kinderschutz laut Sozialministerium verstärkt. Die große Wende erfolgte in den 1990er-Jahren mit dem neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz. Eine effiziente Heimaufsicht, Meldepflichten, genügend qualifiziertes Personal sowie mit Jugendlichen besetzte Heimbeiräte sollen heute dafür sorgen, dass so etwas nie wieder vorkommt.
„Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht“, räumt Grüner ein. „Aber wir haben keinen Mantel des Schweigens mehr – und die Kinder sind heute viel selbstbewusster als früher.“