Ein echter Lahm
Bayerns Kapitän hat mit der Art der Verkündung seines Rückzugs die Bosse düpiert – und war doch authentisch
MÜNCHEN - Welch schönes Wort! Privatier – das klingt vornehm, aristokratisch beinah, nach weltläufiger Unabhängigkeit. Ein Privatier ist mit sich im Reinen, muss nicht die Schutzbehauptung aufstellen, „Projekte am Laufen“zu haben, was im Grunde oft nur eine Umschreibung für „mir ist total langweilig“ist. Sicher, manch einem Privatier mag bisweilen auch der Vorwurf gemacht werden, ihm sei seine pekuniäre Unabhängigkeit in den Schoß gefallen.
Doch das betrifft Philipp Lahm ja nicht, der wahrlich genug geleistet hat, um am Dienstag nach dem 1:0 (1:0) im Achtelfinalspiel im DFB-Pokal gegen den VfL Wolfsburg guten Gewissens ankündigen zu können, „dass ich ab Sommer Privatier bin“. 21 große Titel hat der Fußballspieler Lahm, dessen Vertrag eigentlich noch bis 2018 läuft, gesammelt in seiner Karriere. Er hat als Kapitän die DFB-Elf zum vierten WM-Titel geführt, mit dem FC Bayern in zwölf Jahren eine Meisterschaft mehr gewonnen als der Hamburger SV und zwei mehr als der VfB Stuttgart in ihrer gesamten Geschichte; und die aktuelle Spielzeit läuft ja noch, die achte Meisterschale soll und wird es wohl noch werden, allen spielerischen Unzulänglichkeiten der Bayern derzeit zum Trotz. Dann wird er abtreten, selbstbestimmt, auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Oder in Lahms Worten: „Ich bin mir sicher, dass ich bis zum Ende der Saison meine Topleistung abrufen kann, auch für die jungen Spieler, für alle anderen ein Vorbild sein kann. Das bekomme ich hin. Ich liebe den Fußball, der Fußball hat mir sehr, sehr viel gegeben. Aber irgendwann ist es einfach zu Ende. Und das Ende will ich selber bestimmen.“
Unverschämte Fehlerlosigkeit
Lahms größte Markenzeichen auf dem Platz sind – neben dieser geradezu unverschämten Fehlerlosigkeit in seinem Spiel (und augenscheinlich auch im Leben) – diese formvollendeten Klemmgrätschen, mit denen der kleine Mann auch die schnellsten, robustesten und technisch beschlagensten Stürmer vom Ball trennt, ohne sie kaum je zu foulen. Dazu bedarf es ein außergewöhnliches Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Das er nun auch beim Rückzug ins Private beweisen möchte, wie er es schon bei seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft nach dem Triumph von Rio de Janeiro bewiesen hat.
Uli Hoeneß ist nie Privatier gewesen, er konnte das einfach nicht. Nicht, als er 27-jährig über Nacht vom Spieler zum Manager wurde und quasi eine ganze Berufskaste erfand, nicht, als er jetzt seine Haftstrafe wegen Steuerhinterziehung abgesessen hatte. Vom Spieler zum Manager zum Präsidenten; vom Präsidenten zum Häftling zum Präsidenten: Hoeneß ist Hoeneß, jetzt also auch wieder Aufsichtsratsvorsitzender seines Vereins. Doch Lahm ist Lahm, im Sommer also Privatier und nicht Sportdirektor seines Vereins, wie es Hoeneß und Vorstandschef KarlHeinz Rummenigge gerne gesehen hätten. Aber eben: Sportdirektor und nicht Sportvorstand, was Lahm dem Vernehmen nach lieber geworden wäre. Doch das schien den Bossen dann doch zu große Machtfülle für einen, der momentan noch ein Fußballspieler ist und keinerlei Funktionärserfahrung vorweist. „Bei uns im Aufsichtsrat sitzen Dax-Vorstände. Für die kommt nicht infrage, dass jemand ohne Berufserfahrung im Vorstand anfängt“, sagte Hoeneß der „Funke Mediengruppe“.
Noch mehr als die Entscheidung zum Rückzug war die Art der mit den Bayern-Granden so nicht abgesprochenen einsamen Verkündung: ein echter Lahm. Hoeneß dürfte sich Dienstagabend jedenfalls wie ein verdatterter Schulbub gefühlt haben, als er mitbekam, dass Lahm beinahe zeitgleich zum präsidialen Halbdementi die von „Sport Bild“enthüllte Geschichte des Rückzugs vollumfänglich bestätigte. Lahm hat es einem immer recht leicht gemacht, ihn zu unterschätzen. Da ist die Körpergröße( op tim istische1,70m ), klar, da ist diese gewisse Rotbackigkeit gepaart mit tiefen Augenringen, wenn Lahm auf dem Rasen stets verbindlich, aber auch sehr oft worthülsig das Spiel analysiert, da ist diese Fehlerlosigkeit, dieses Gesicht des ewig Einundzwanzig ein halbjährigen, die ihm etwas Streberhaftes verleihen.
Doch der größte Fehler, den man in Bezug auf diesen außergewöhnlichen Außenverteidiger machen konnte, war eben immer ihn zu unterschätzen. Wenn es um seine Karriereplanung ging, hat er, immer begleitet und womöglich auch ein wenig angetrieben von seinem väterlichen Freund und Berater Roman Grill, noch nie Kompromisse gemacht. Frag nach bei Michael Ballack, der 2010 verletzungsbedingt die WM in Südafrika verpasste und nach seiner Genesung feststellen musste, dass Lahm gar nicht daran dachte, die Kapitänsbinde wieder abzugeben, und bereits die gesamte Mannschaft inklusive Trainerteam um Joachim Löw auf seine Seite gezogen hatte. Ballack machte kein Länderspiel mehr. Lahm, der als Kapitän das Löw’sche Dekret der flachen Hierarchien postuliert, ist durchaus machtbewusst. Und er weiß sich zu positionieren. Bis heute ist er der Spieler, dem der FC Bayern die höchste Geldstrafe aufbrummte. 50 000 Euro kostete ihn 2009 jenes Interview in der „Süddeutschen Zeitung“, in dem er den Bossen unter anderem vorwarf, Spieler vor allem nach Namen und nicht nach ihren Fähigkeiten zu verpflichten, und generell das Fehlen einer „Spielphilosophie“beim Rekordmeister bemängelte.
Spaß mit Guardiola
Kein Wunder, dass Lahm nie so viel Spaß an seinem Beruf hatte, wie in den drei Jahren unter Pep Guardiola. Der katalanische Fußballgelehrte schulte den Außenverteidiger zum spielgestaltenden Alleskönner um, adelte ihn zum „intelligentesten Spieler“. Das Verhältnis Lahms zu Carlo Ancelotti, diesem großen Spielerversteher unter den Trainern, ist nicht schlecht, aber im Vergleich deutlich professioneller. Doch die rund um den FC Bayern nun vielgestellte Frage, ob Lahm sich jetzt anders entschieden hätte, wäre Guardiola noch da, wird wohl nie beantwortet werden.
Hoeneß und Rummenigge waren am Tag nach dem Beben derweil damit beschäftigt, die Scherben des Kommunikationsdesasters aufzukehren. „Der FC Bayern München ist überrascht über das Vorgehen Philipp Lahms und seines Beraters“, ließ Rummenigge verlauten. Man sei „bis gestern davon ausgegangen, dass es zu dieser Entscheidung eine gemeinsame Erklärung Philipp Lahms und des FC Bayern München geben wird“. Doch für Lahm stünden „die Türen auch künftig offen“. Auch Hoeneß schien sich schnell erholt zu haben vom Schock, die Fäden diesmal nicht in der Hand gehabt zu haben. „Für Philipp Lahm bleibt die Tür bei uns offen. Ich kann mir vorstellen, dass er eines Tages beim FC Bayern arbeitet. Die Überraschung mit der Bekanntgabe ist für mich eine Marginalie“, sagte er.
Für Lahm, den künftigen Privatier, dürfte sie dann doch etwas mehr gewesen sein.