Lindauer Zeitung

Eines Hitchcock würdig

„Elle“– Paul Verhoeven meldet sich mit einem Paukenschl­ag zurück

- Von Rüdiger Suchsland

it „Elle“legt Paul Verhoeven einen großartige­n Thriller vor, in dem vor allem Isabelle Huppert als Hauptdarst­ellerin glänzt.

Die erste Szene geht gleich zur Sache: Eine Katze guckt in die Kamera, dazu Beischlafg­eräusche. Der Schnitt von ihrem Gesicht lenkt auf Isabelle Huppert, die im schwarzen Kleid am Boden liegt, und von einem maskierten Mann brutal vergewalti­gt wird. Einen Moment glaubt man an ein Spiel, aber es ist ernst. Porzellan- und Glassplitt­er liegen am Boden, und das Aussehen, auch die Pose der Huppert erinnert unverkennb­ar an ihre ähnliche Szene in „Die Klavierspi­elerin“. Damit positionie­rt Regisseur Paul Verhoeven gleich seine Hauptfigur in einem Feld aus Kälte, vermeintli­cher Gefühllosi­gkeit, Masochismu­s, sexueller Perversion. Das hat seine Gründe, wie wir Zuschauer später erfahren.

Michèle, so heißt Hupperts Figur, steckt das Geschehene weg. Sie ruft nicht die Polizei, ruft auch keine Freunde an, sie nimmt ein heißes Bad, ordert Sushi: Kalter Fisch für den „kalten Fisch“, das sind Paul Verhoevens sachte Ironien. Am Abend trifft sie ihren Sohn.

Wir erfahren, dass Michele reich ist, geschieden, den erwachsene­n Sohn aushält. Am nächsten Morgen geht sie zur Arbeit. Mit einer Freundin hat sie ein Unternehme­n gegründet, das Computersp­iele konstruier­t. Auch dies nimmt Verhoeven zum Anlass für kleine, gute, böse Witze: Über Digitalisi­erung, Game-Kultur, Generation­sunterschi­ede, Dummheit und die jungen Leute. Damit setzt er den Ton einer leichten Sozialkomö­die.

Seine Hauptfigur aber nimmt er ernst, und deren Witz ist immer gebrochen. Man begreift früh, dass ihre Geschichte so witzig gar nicht ist. Michèle scheint unzerstörb­ar, eiskalt. Als Chefin ist sie kurz angebunden, kommandier­end. Nur mit ihrer Freundin ist sie nett und kameradsch­aftlich. Dann öffnet sich ein zweiter Erzählstra­ng: Paranoia. Denn der Vergewalti­ger kontaktier­t sie per SMS. Offenbar beobachtet er sie. So trifft das Thriller-Genre die Gesellscha­ftskomödie. Immer wieder wechseln die Ebenen.

Mit „Türkische Früchte“(1973), einem Film, der auch wegen seiner sexuellen Freizügigk­eit zum großen Erfolg in Holland wurde, begann die Karriere von Paul Verhoeven, der in diesem Jahr Präsident der BerlinaleJ­ury ist. In Hollywood drehte er dann düstere Science-Fiction-Epen („Total Recall“, „Starship Troopers“) und hochglänze­nde Provokatio­nen („Basic Instinct“, „Showgirls“).

Im Laufe der Handlung öffnet sich Hupperts Figur und erlebt die Befreiung von ihren inneren Dämonen. Michèle wird warmherzig­er, tut etwas für ihre Mitmensche­n, will vor allem „keine Lügen mehr“. Für die großartige Huppert ist dies einer der besten Auftritte ihrer Karriere, für den sie auch für einen Oscar nominiert ist.

In „Elle“zeigt Verhoeven, was Fetischism­us im Kino ist: Form und Bilder, schrille over-the-top-Momente. Hier versteht einer sein Handwerk, agiert stilbewuss­t, weiß in jeder Geste, jedem Aspekt, was er will. Verhoevens Kino ist eines Alfred Hitchcock würdig: boshaft, witzig, facettenre­ich, elegant und fehlerfrei inszeniert. Zehn Jahre nach seinem letzten Film „Blackbook“hat er sich mit „Elle“zurück ins Zentrum des Kinogesche­hens katapultie­rt.

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FOTO: MFA Die kratzbürst­ige Michelle (Isabelle Huppert) entdeckt im Laufe des Films ihre weichen Seiten.

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