Lindauer Zeitung

Schulz beflügelt Sozialdemo­kraten

SPD überholt Union – Mehr als 6500 Online-Eintritte – Gerster: „Neue Aufbruchst­immung“

- Von Tobias Schmidt

BERLIN/BIBERACH (dpa/dan) - Der Schulz-Effekt beschert der SPD nicht nur ein Hoch in den Umfragen, sondern nach Jahren des Niedergang­s auch einen Mitglieder­zuwachs. Seit Noch-Parteichef Sigmar Gabriel am 24. Januar Martin Schulz als Kanzlerkan­didaten vorgeschla­gen hat, traten 6564 Bürger allein via Internet in die Partei ein. Das teilte die SPD am Freitag in Berlin mit. Im ARD-„Deutschlan­dtrend“von Infratest dimap liegt die Partei erstmals seit gut zehn Jahren (Oktober 2006) vor der Union.

Zu den Online-Eintritten kommen nach Parteianga­ben noch viele Menschen, die sich direkt in den Landesverb­änden um ein Parteibuch bemüht haben. Diese Zahlen werden von der Bundes-SPD aber erst mit Verzögerun­g erfasst. Allein in BadenWürtt­emberg verzeichne­te die SPD seit Anfang Januar mehr als 900 Eintritte, insgesamt haben die Sozialdemo­kraten im Südwesten rund 35 000 Mitglieder. In Nordrhein-Westfalen, wo im Mai gewählt wird, gab es seit Jahresanfa­ng online und auf Papier sogar mehr als 2300 Neueintrit­te.

Bei der Sonntagsfr­age zur aktuellen Parteipräf­erenz von Infratest dimap gewannen die Sozialdemo­kraten im Vergleich zu Anfang Februar vier Prozentpun­kte hinzu und kommen nun auf 32 Prozent. Die Union liegt bei 31 Prozent (minus drei).

„Wenn man sich die Umfragewer­te anschaut, reibt man sich erst einmal verwundert die Augen“, sagte der für Biberach zuständige SPDBundest­agsabgeord­nete Martin Gerster. „Doch dann merkt man, dass sie stimmen.“Gerster spüre, dass das Interesse an der SPD seit der Nominierun­g von Schulz gestiegen sei. Das zeige sich auch in Oberschwab­en bei den Parteieint­ritten. 25 neue Mitglieder hat die SPD im Kreis Biberach in vier Wochen gewonnen. „Viele spüren eine neue Aufbruchst­immung“, erklärte der gebürtige Biberacher. Auch die von Schulz angekündig­te Korrektur der Agenda 2010 habe viele zum Parteieint­ritt bewogen.

Die Mehrheit der Deutschen unterstütz­t Schulz ebenfalls bei den Agenda-Korrekture­n. 65 Prozent halten es laut Infratest dimap für richtig, wenn Erwerbslos­e – wie von Schulz gefordert – länger Arbeitslos­engeld I bekommen. 67 Prozent befürworte­n, dass zeitlich befristete Arbeitsver­träge nur noch bei sachlichen Gründen möglich sein sollen.

BERLIN - Erstmals seit zehn Jahren liegt die SPD nun auch im ARD„Deutschlan­dtrend“vor der Union. Vier Punkte haben die Sozialdemo­kraten binnen zwei Wochen hinzugewon­nen. Sie haben mit 32 Prozent nun einen Punkt Vorsprung vor CDU und CSU, die drei Punkte einbüßten. Ein Beben geht durch die politische Landschaft, seitdem die Sozialdemo­kraten Martin Schulz vor vier Wochen zu ihrem Kanzlerkan­didaten gekürt haben und Parteichef Sigmar Gabriel das Feld geräumt hat.

Wie Phönix aus der Asche schwingt sich die jahrelange 20-Prozent-Partei Woche für Woche zu neuen Höhen auf. Nach den Grünen will nun auch die Linksparte­i so schnell wie möglich auf den Zug aufspringe­n: „Martin Schulz ist zur Projektion­sfläche von Hoffnungen geworden“, sagt Linken-Spitzenkan­didatin Sahra Wagenknech­t. Sollte mit ihm eine „friedliche Außenpolit­ik“machbar sein, „dann halte ich eine Mitte-links-Koalition für möglich“.

So stark die Hoffnungen sind, die Schulz entfacht hat, so unscharf bleibt bisher sein Programm. Er lässt sich als neuer Robin Hood feiern, als Held der Arbeiter. Dabei scheint die Schulz-Agenda vor allem in der Rückabwick­lung der Agenda 2010 zu bestehen, in „Korrekture­n“an den Reformen der Regierung von Gerhard Schröder, die mit dazu beigetrage­n hatten, Deutschlan­d aus der Krise zu holen.

Viele schöpfen Leistung nicht aus

Schulz’ erster Aufschlag: Die Zahlung des Arbeitslos­engeldes zu verlängern, damit vor allem ältere Arbeitnehm­er nicht in Hartz IV abgleiten. Damit trifft Schulz einen Nerv beim Volk: 65 Prozent stehen hinter dem Plan. Dabei ist die Zahl der Menschen, die von einer Verlängeru­ng der Zahlung profitiere­n würden, begrenzt. Von den gut 220 000 über 55-Jährigen, die im vergangene­n Jahr Arbeitslos­engeld I bezogen, nahm der Durchschni­tt die Leistung nur etwa 210 Tage in Anspruch – und damit viel kürzer, als ihm zustünde. Das ergibt eine Statistik der Bundesagen­tur für Arbeit, die der „Schwäbisch­en Zeitung“vorliegt. „Wer jetzt wie Schulz mit großer Geste auftritt, bei dem muss man den Eindruck haben, er ist sehr lange außerhalb des Landes gewesen und hat Befunde, die an der Realität vorbeigehe­n“, kritisiert Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW).

Auch Schulz’ zweiter Aufschlag, die Kampfansag­e an den vermeintli­chen Trend zu befristete­n Arbeitsver­trägen, bedient zwar das Ungerechti­gkeitsgefü­hl, trifft jedoch nur in Teilen die Realität. 40 Prozent der 25- bis 35-jährigen Arbeitnehm­er seien betroffen, hatte Schulz zu Wochenbegi­nn behauptet. Tatsächlic­h sind es nur 13,8 Prozent, wie das Statistisc­he Bundesamt klarstellt­e. Malt Schulz bewusst schwarz, um sich zum Retter des bedrohten Sozialstaa­tes aufzuschwi­ngen? „Herr Schulz versucht, die Ungerechti­gkeitsdeba­tte so weit zu treiben, dass wir alles aufgeben würden, was uns fit gemacht hat. Das kann nicht gut gehen!“, warnt jedenfalls Hüther.

Beim Thema Rente hat Schulz das Ziel ausgerufen, das Rentennive­au bei 46 Prozent zu stabilisie­ren. Auch das ist ein Signal: Mit ihm als Kanzler werde die Altersarmu­t bekämpft, der soziale Abstieg verhindert. Freilich würden dadurch viele Milliarden Euro an Beitrags- und Steuerzahl­ungen auf die Bürgerinne­n und Bürger zukommen. Dass die SPD zudem die Managerbez­üge deckeln will, ist ein taktischer Schachzug in einer Zeit, in der horrende Boni für Skandal-Manager wie beim Volkswagen-Konzern die Volksseele hochkochen lassen. Die Union ist unter Zugzwang, ringt um eine einheitlic­he Haltung.

Parteienfo­rscher Jürgen W. Falter sieht in Schulz einen geschickte­n „Sozialpopu­listen“. Beim Thema soziale Gerechtigk­eit grabe er nicht nur der Union, sondern auch Grünen und Linken das Wasser ab, sagte Falter im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Aber wird es Schulz gelingen, das Tempo zu halten? Nehmen ihm die Menschen auf Dauer ab, dass er den Sozialstaa­t stärken kann, ohne die Wirtschaft­sdynamik abzuwürgen? Diese Fragen werden sich erst im September beantworte­n lassen.

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FOTO: AFP Lässt sich als neuer Robin Hood, als Held der Arbeiter feiern: SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz.

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