Lindauer Zeitung

Abschied von der allmächtig­en Mutter der Kindheit

Demenzerkr­ankung verändert Mutter-Tochter-Beziehung

- Von Yvonne Roither

LINDAU (roi) - Ängste, Wut, Schuldgefü­hle und Aggression­en: Wenn Angehörige an Demenz erkranken, geraten pflegende Angehörige an ihre Grenzen. Das gelte vor allem für Töchter, die ihre demente Mutter betreuen, meint Edith Marmon. Die Lindauer Psychother­apeutin erläutert in ihrem Buch „Gute Tochter Böse Tochter? Die Mutter-TochterBez­iehung im Spannungsf­eld der Demenz“warum Töchter diesem Gefühlscha­os stärker ausgesetzt sind als pflegende Söhne. Doch sie geht noch einen Schritt weiter: Edith Marmon zeigt auf, dass die Pflegezeit auch eine persönlich­e Entwicklun­gschance sein kann. Dazu greift sie auf die Symbolkraf­t von Mythen und Märchen zurück.

Die Autorin hat vielfältig­e Erfahrunge­n mit Demenz. Sie hat ihre Mutter selbst gepflegt und ist somit selbst Betroffene. Und sie betreut viele Patientinn­en in ihrer Praxis, die unter der Situation leiden. Deren Beispiele bereichern das Buch, das keine rein wissenscha­ftliche Abhandlung sein soll, sondern auch ein praktische­r Ratgeber, eine „Hilfestell­ung für Töchter, sich den Überforder­ung bei der Betreuung bewusst zu stellen“, wie Marmon im Klappentex­t verrät. Das sei die Voraussetz­ung, damit dieser an sich schmerzlic­he Prozess gelingt – die Tochter also das Gefühl bekommt, die Beziehung zu ihrer dementen Mutter gut hinzukrieg­en, und die Mutter sich auch in dieser für sie beunruhige­nden Lebenssitu­ation geborgen und respektvol­l behandelt fühlt.

Kindliches Verlassenh­eitsgefühl kann sich einstellen

Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist etwas ganz besonderes, betont Edith Marmon. Die schützende, fürsorglic­he Mutter sei für das Kind nicht nur das Tor zur Welt, das dem Kind die Sprache vermittelt. Sie spiegelt die Emotionen ihres Kindes richtig, wodurch bei dem Kind die Gewissheit reift, richtig verstanden zu werden, so in Ordnung zu sein, wie es ist. Die Mutter zeigt der Tochter auch die weibliche Rolle, lebt ihr vor, was sie unter Frau-Sein versteht, was für Werte und welches Verhalten damit verbunden sind. Diese enge Beziehung erlebt mit der Pubertät der Tochter die erste Krise, „wenn aus der ursprüngli­chen Verbundenh­eit Verschiede­nheit Gestalt annimmt“. Auch in diesem Entwicklun­gsprozess kommt es zu den unterschie­dlichsten Emotionen wie Trauer, Wut und Verzweiflu­ng, die beide Seiten meistern müssen.

Heftige Emotionen brechen auch auf, wenn nun die Mutter, die primär für Halt, Sicherheit und Schutz sorgte, immer verwirrter wird. Es kann sich laut Marmon ein kindliches Verlassenh­eitsgefühl einstellen, die Selbstsich­erheit der Töchter ist in Gefahr. „Denn die war ja in der Kindheit an die Mutter, die mütterlich­en Signale und deren zuverlässi­ge Vorhersehb­arkeit gekoppelt“, erklärt Marmon. Die kindliche Idealisier­ung der Mutter kann nicht mehr aufrechter­halten werden, viele schämen sich für das Verhalten ihrer Mutter oder fühlen sich im Stich gelassen, verdrängen aber ihre aggressive­n Gefühle gegenüber der Mutter, für deren Fürsorge sie doch verantwort­lich sind. Schuldgefü­hle sind die Folge.

Doch auch die Mutter steckt im doppelten Sinne in der Klemme. Sie empfindet das Schwinden ihrer geistigen und körperlich­en Fähigkeite­n als persönlich­en Verlust – und wird von der Umwelt dafür auch noch bestraft, indem weniger freundlich und geduldig mit ihr umgegangen wird. Edith Marmon zeigt auf, dass dieser schwierige Prozess besonders dann zu Krisen führt, wenn die Beziehung zwischen Mutter und Tochter bereits im Vorfeld belastet war.

Tochter muss laut Autorin eine bewusste Entscheidu­ng treffen

Doch wie lässt sich diese verhängnis­volle Spirale umgehen, wie kann ein zufriedens­tellender Umgang erreicht werden? Wichtige Voraussetz­ung nach Marmon ist, dass die Tochter eine bewusste Entscheidu­ng trifft, ob und in welchem Umfang sie für die Pflege der Mutter bereit ist. Das verändert die Sichtweise und bedeutet, dass sie die Schwierigk­eiten nicht nur erleidend hinnimmt. Dann könne sie die Schätze, die die Mutter noch in sich trägt, erkennen und einen wertschätz­enden Umgang mit ihr ermögliche­n. Dazu gehöre, darauf zu verzichten, die demente Mutter ständig mit ihren Defiziten zu konfrontie­ren, sondern das „Verrückte“als neue Gegebenhei­t anzunehmen.

Die Erkrankung der Mutter kann, so die These von Edith Marmon, im besten Fall eine Entwicklun­g der Tochter anstoßen - indem diese auch ihre eigenen negativen Seiten wahrnimmt, alte seelische Wunden noch einmal betrachtet und vielleicht sogar heilt. Das setzt jedoch laut Marmon eins voraus: „Das Mutterbild muss sich allerdings in der Tochter wandeln dürfen, von der allmächtig­en Mutter der Kindheit zur gebrechlic­hen, aber immer noch beschenken­den Mutter der Gegenwart, die jetzt auf die Hilfe der Tochter angewiesen ist.“

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FOTO: KERSTIN WEBER Bei einer Demenzerkr­ankung leiden alle Beteiligte­n unter widersprüc­hliche Gefühlen.

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