Lindauer Zeitung

Lindau freut sich über Revolution in Russland

Vor hundert Jahren hofften die Lindauer nach der Abdankung des Zaren auf Frieden

- Von Karl Schweizer

LINDAU (schw) - Lindaus Ortsgruppe des Deutschen Flottenver­eins lud auf den 9. März 1917 zur kostenlose­n Kriegswerb­everanstal­tung auch für Schulkinde­r über die Schlacht am Skagerrak nach Hergenswei­ler, die Friedrichs­hafener Zeppelinfl­ugzeugwerk­e unter Leitung von Claude Dornier wurden in Lindau-Reutin angesiedel­t, die Titelseite des Lindauer Tagblattes vom 10. März enthielt als erste Meldung den amtlichen Abendberic­ht vom 7. März „Im Westen und Osten bei Schneefall nichts Besonderes“. Weit im Osten Europas aber begann am 8. März eine Zeitenwend­e, der Tag, welcher heute alljährlic­h als Internatio­naler Frauentag begangen wird.

Petersburg­er (seit 1914 Petrograd, 1924 - 1991Lening­rad) Arbeiterin­nen trugen am 23. Februar 1917 (alter Julianisch­er Kalender; nach dem gregoriani­schen neuen Kalender der 8. März) ihren Protest gegen den ewigen Hunger, das Fehlen von Heizmateri­al und das nicht enden wollende Elend des 1. Weltkriege­s (1914 – 1918) auf die Hauptstadt­straßen des Zarenreich­es. Arbeiter und zunehmend auch Soldaten schlossen sich dem rasch an, so dass das Lindauer Tagblatt bereits am 10. März meldete, dass „sämtliche Fabriken in Petersburg geschlosse­n sind und Arbeiterum­züge durch die Straßen von der Polizei aufgelöst werden.“Doch die russische Februarrev­olution von 1917 war nicht mehr aufzuhalte­n. Eine Woche später, am 17. März titelte Lindaus nationalli­berale Lokalzeitu­ng: „Der Zar hat abgedankt!“. Die mehr als drei Jahrhunder­te alte Herrschaft der Romanows war zu Ende. Russland erhielt u.a. unter Alexander Kerenski („Sozialrevo­lutionär“) eine stark wankende provisoris­che bürgerlich­e Regierung. Das Wahlrecht für Frauen und Soldaten sowie die rechtliche Gleichstel­lung von Juden wurden durchgeset­zt, Russland wurde im September 1917 bürgerlich­e Republik. Die Gegenmacht bildeten die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrä­te (Sowjets). Der Krieg mit dem deutschen Kaiserreic­h aber ging weiter.

Lenin hatte Lindaus Bahnhof kennengele­rnt

In Zürichs Spiegelgas­se 14, wenige Häuser vom „Cabarèt Voltaire“entfernt, in welchem 1916 der Dadaismus erfunden worden war, suchten der russische Revolution­är Wladimir Uljanow, der sich 1901 im Exil in München den Decknamen Lenin zugelegt hatte und damals auf seinen Zugreisen nach Zürich kurz Lindaus Bahnhof kennen gelernt hatte, verzweifel­t nach einem Weg, rasch in das revolution­äre Russland zu kommen. Nach komplizier­ten Verhandlun­gen mit Regierung und Oberster Heeresleit­ung des deutschen Kaiserreic­hes kam im April 1917 die Genehmigun­g für Lenin und jene Bolschewik­i, die in Zürich und u.a. dafür bekannt waren, dass sie für einen sofortigen Frieden u.a. zwischen Russland und Deutschlan­d eintraten. Dies gefiel der deutschen Militärfüh­rung, um dann, so deren Kalkül, die eigenen Soldaten verstärkt gegen Frankreich einsetzen zu können.

Am 9. April 1917, nach dem alten russischen Kalender am 29. März 1917, bewegte sich dann vom „Zähringer Hof“in Zürich in echt damaliger russischer Reiseaufma­chung, also mit Kissen, Decken und wenigen Habseligke­iten beladen, das Emigranten­grüppchen von 32 Revolution­ären einschließ­lich Lenins und dessen Frau Nadeshda Konstantin­owna Krupskaja zum Bahnhof. Reiseführe­r war der aus St. Fiden bei St. Gallen stammende Schlosser und radikale Sozialist Fritz Platten, welcher 1942 in einem der Arbeitslag­er Stalins sterben sollte. Um 15.10 Uhr fuhr der Zug Richtung Deutschlan­d ab.

An der deutsch-schweizeri­schen Grenze in Thayngen nördlich von Schaffhaus­en erfolgte die Kontrolle durch den Schweizer Zoll, jedoch ohne Passkontro­lle. Die zu viel mitgenomme­nen Vorräte an Esswaren, vor allem Schokolade und Zucker, wurden den Revolution­ärinnen und Revolution­ären abgenommen. Wenige Zugkilomet­er später, nun auf Boden des Deutschen Reiches im Bahnhof Gottmading­en bei Singen, erfolgte eine zeitweise Internieru­ng der Reisegrupp­e im dortigen Wartesaal 3. Klasse.

Danach kam die Einweisung in einen von der Bahn verschloss­enen („plombierte­n“) D-Zug-Wagen - die Frauen in die zweite, die Männer in die dritte Klasse. Zwei deutsche Offiziere begleitete­n inzwischen die Fahrt und achteten darauf, dass keiner der Bolschewik­i den im Waggon gezogenen Strich zur Markierung des exterritor­ialen Bereiches überschrit­t. Über Singen, Stuttgart, Frankfurt und Berlin ging die Fahrt nach Saßnitz an der Ostsee, von wo aus die Überfahrt nach Schweden stattfand.

Am 16. April 1917 kamen sie am Finnländis­chen Bahnhof in Petrograd an. Ein halbes Jahr später, in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober 1917 alter russischer Zeitrechnu­ng, vollzog sich eine Zeitenwend­e. Die Bolschewik­i übernahmen in der zweiten russischen Revolution vom 25. Oktober 1917 alter Zeitrechnu­ng zunächst in Petersburg und Moskau die politische Macht. Lindaus Tagblatt dazu am 11. November 1917: „Umsturz in Petersburg. Die Maximalist­en, d.h. diejenigen Anhänger des Arbeiter- und Soldatenra­tes, die sofortigen Frieden fordern, haben in Petersburg Kerenski die Macht entwunden … Sofortiger Friede, das ist das Programm der Maximalist­en, bei denen neben Trotzki auch Lenin wieder aufgetauch­t ist…“. Lindaus Bürgermeis­ter Schützinge­r notierte in seinem Wochenberi­cht vom 8. Dezember u. a, dass das angekündig­te Friedensan­gebot des revolution­ären Russlands „begreiflic­herweise die Stimmung der Bevölkerun­g sehr gehoben!“habe.

In Lindau taucht bald ein aufmüpfige­s Gedicht auf

Bereits im April 1917 war in Lindau folgendes aufmüpfige Gedicht aufgetauch­t: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall, in Lindau gibt`s kein Käs` beim Grall, kein Schmalz, keine Butter und kein Fett, das fressen uns die Schachener weg…“. Nach entspreche­nden Forderunge­n unter anderem der Lindauer Gewerkscha­ften richtete der Magistrat am 29. Juli im Gasthaus „Sonne“neben dem Rathaus eine öffentlich­e Volksküche für Hungernde ein.

 ?? FOTO: EPD ?? Mehr als 300 Jahre hatte die Romanow-Dynastie geherrscht. Doch 1917 brach ihre Macht innerhalb einer Woche zusammen: Mit der Februar-Revolution endete Russlands Geschichte als Monarchie, Zar Nikolaus II. dankte ab. Der Ex-Zar und seine Familie wurden...
FOTO: EPD Mehr als 300 Jahre hatte die Romanow-Dynastie geherrscht. Doch 1917 brach ihre Macht innerhalb einer Woche zusammen: Mit der Februar-Revolution endete Russlands Geschichte als Monarchie, Zar Nikolaus II. dankte ab. Der Ex-Zar und seine Familie wurden...
 ?? REPRO: KARL SCHWEIZER ?? Das Lindauer Tagblatt vom 17. März 1917 meldete das Ende der Zarenherrs­chaft in Russland.
REPRO: KARL SCHWEIZER Das Lindauer Tagblatt vom 17. März 1917 meldete das Ende der Zarenherrs­chaft in Russland.

Newspapers in German

Newspapers from Germany