Lindauer Zeitung

Schmau genau!

Kau- und Schmeck-Seminar statt Frühjahrsd­iät – Kein Unsinn, sondern eine genussvoll­e Haltung fürs Leben

- Von Erich Nyffenegge­r

Verzicht, Diät – das ist alles Humbug und unnötig! Jürgen Schilling schwört auf seine Kau- und Schmeckmet­hode. Damit könne man dauerhaft Gewicht verlieren.

Am Sonntag, dem 13. Januar 2002, fällt US-Präsident George W. Bush für kurze Zeit in Ohnmacht, nachdem er beim hastigen Verzehr einer Brezel fast erstickt wäre. Als der Münchner Schauspiel­er Jürgen Schilling davon liest, greift er sofort zu Papier und Bleistift und schreibt der Mutter des Opfers schlechten Kauens und Schlingens, Barbara Bush, einen Brief. Darin legt er eindringli­ch dar, wie dem Jungen geholfen werden könne, damit dieser sich künftig nie mehr und an nichts verschluck­e. Nebenbei erklärt Schilling in dem Schreiben der Mutter des damals mächtigste­n Mannes der Welt, wie die USA von der Geißel des Übergewich­ts, von Diabetes und anderen Leiden geheilt werden könne. Eine Antwort hat Schilling nie bekommen, was ihn aber nicht weiter stört. Denn er ist bis heute überzeugt, dass die Stunde des Durchbruch­s seiner Entdeckung – des Schmauens – kommen wird.

Angefangen hat alles zu Beginn der 1990er-Jahre: Fürchterli­ch, ständig diese Oberbauchs­chmerzen! Ob’s an den vielen Büffets liegt, auf die der Schauspiel­er andauernd trifft? An der Schokolade oder den Fertiggeri­chten, die er sich nach Proben oder Vorstellun­gen zu den unmöglichs­ten Tages- und Nachtzeite­n in den Magen stopft? Ganz genau weiß Schilling heute nicht mehr, was schließlic­h der Auslöser war, über sich selbst und das eigene Ess- und Kauverhalt­en nachzudenk­en. Woran er sich aber ganz genau erinnert, ist der sehr stark übergewich­tige Dackel seiner Mutter. Das Tier ist immer um den Essenstisc­h herumschar­wenzelt, hat gebellt und gewinselt, wenn andere zu speisen versuchten. „Da hab’ ich dem Hund einen harten Brotkanten zugeworfen. Und es war Ruhe.“

Das alles ist jetzt fast 30 Jahre her, aber es ist wichtig, um den Mann und seine Mission im Hier und Heute zu verstehen. Er steht in einer Münchner Arztpraxis vor acht Seminartei­lnehmern, die aus ganz Deutschlan­d angereist sind, eine Frau sogar per Flieger aus Bremen. Sie haben diese weiten Wege auf sich genommen, um das Schmauen zu erlernen. Schmauen? Jürgen Schilling hat dieses neue Wort aus den Begriffen Schmecken und Kauen erschaffen. Und damit seine Philosophi­e auf eine denkbar kurze Formel gebracht. „Den Dackel“, so sagt er jetzt mit einem triumphier­enden Grinsen, „habe ich mit Schmauen abgespeckt“. Durch das Füttern mit trockenem Brot sei der Hund endlich beim Fressen gefordert gewesen. Vorbei die Zeiten der industriel­len Futterpamp­e, die nur so durch den Rachen flutschte. Und wenn ein Dackel das Prinzip versteht, dann die Anwesenden des Seminars doch sicher auch.

Reinhard Stummreite­r ist „ergebnisof­fen“zu Schilling gekommen, wie er sagt. Er gehört zur knappen Hälfte der Teilnehmer, die überhaupt nennenswer­tes Übergewich­t haben. Dabei hat sich der vormalige 300-Kilo-Oberpfälze­r seit einer Magen-OP bereits halbiert. „Man muss aufpassen, bei mir stagniert das Gewicht gerade, es geht sogar eher wieder nach oben.“Die Notbremse, das könnte Jürgen Schilling werden, der nun die Gruppe um den Tisch zur ersten Übung versammelt: das Schmauen von Wasser. „Das ist ein gutes Training! Nehmen Sie einen Schluck, schließen Sie die Augen, lehnen Sie sich zurück, halten Sie die Flüssigkei­t im Mund, schmecken Sie, spüren Sie – und schlucken Sie in drei bis fünf kleinen Etappen.“

Die Menschen im Raum sitzen mit geschlosse­nen Augen da und spüren mit allen Sinnen dem Wasser in ihrem Mund nach. Die Schluckger­äusche erinnern ein wenig an sanft quakende Frösche. „Fühlen Sie es?“, fragt Jürgen Schilling, dem Gestik, Mimik und Betonung des Schauspiel­ers bis heute unleugbar in den Knochen steckt. Auch wenn er sich längst von Bühne und dem Fernsehen zurückgezo­gen hat.

„Das Schmauen ist mir einfach zu wichtig, um meinem alten Beruf noch nachzugehe­n“, sagt Schilling während einer Seminarpau­se. Der 68-Jährige brennt offensicht­lich mit Haut und Haaren für sein Ernährungs­konzept, das eigentlich gar keines ist. Denn: „Wir haben diesen wunderbare­n Kau- und SchmeckApp­arat. Wir nutzen ihn aber nicht. Wir schlucken nur noch.“Und die Lebensmitt­elindustri­e kalkuliere damit. Wie zum Beweis schenkt Schilling Cola aus. Zunächst fordert er die Teilnehmer auf, es ganz normal schnell runterzusc­hlucken. Auf diese Art genossen, schmeckt es den meisten. „Und jetzt schmauen Sie intensiv!“Verblüffen­des Ergebnis: Verbleibt die Flüssigkei­t länger im Mund, bekommen die Geschmacks­rezeptoren mehr Zeit, so schmeckt die Cola rasch unangenehm – und sehr sauer. „Und das trinken Millionen Kinder literweise“, sagt Schilling resigniere­nd, während Reinhard Stummreite­r mit Ekel das Gesicht verzieht. „Würden sie schmauen, es schmeckte ihnen nicht mehr.“

Tatsächlic­h hält Schilling, der sein Buch „Kau Dich gesund!“inzwischen rund 100 000 Mal verkauft hat, der durch sämtliche Talkshows getingelt ist, der auf Ärztekongr­essen und Fachtagung­en für Diabetes und Fettsucht spricht, noch eine ganze Reihe mehr Offenbarun­gen für seine Seminarist­en bereit. Training mit hartem Brot: „Legen Sie sich ein Stückchen auf die Zunge, behandeln Sie es wie ein Bonbon!“Das Brotstück kreist im Mund. Die Backen wölben sich. „Spüren Sie, wie die Säfte fließen? Saugen Sie! Lutschen Sie!“Tatsächlic­h verwandelt sich das Brot mit der Zeit in seidigen Brei – und plötzlich schmeckt es süß. „Die Stärke verwandelt sich in Zucker“, sagt Schilling entzückt und springt von seinem Stuhl auf.

Dieser Moment ist wichtig. Denn er zeigt exemplaris­ch, dass der erste Magen hinter den Schneidezä­hnen sitzt und nicht erst irgendwo im Bauch. „Die Speichel-Amylase ist der wichtigste Verdauungs­schritt. Wenn wir alles nur grob schlucken, dann ist es zu spät!“Bei diesem Vorgang werden Kohlehydra­te bereits im Mund aufgespalt­en. „Der Fehler im System ist, dass wir diesen Schritt heute fast komplett auslassen“, sagt Schilling und zitiert aus einem riesigen Papierstap­el wissenscha­ftliche Studien, die belegen, dass der Kauund Schmauvorg­ang, wie Schilling ihn propagiert, gleich eine ganze Litanei von Segnungen bringt: Der Blutzucker steigt kaum an, die Insulinmen­ge bleibt gering, das Diabetesri­siko sinkt drastisch.

Es gibt offenbar eine Menge Menschen, die Schilling in Briefen danken und schreiben, dass sie aufgrund des Schmauens keine Tabletten oder gar Injektione­n gegen den Typ-2Diabetes mehr bräuchten. Der Geschmacks­sinn wird sensibilis­iert – durch die längere Zeit im Mund entfalten sich Nuancen, die beim hastigen Essen nicht einmal anklingen können. Während das Schlingen dem Flug über eine Landschaft entspricht, ist das Schmauen wie ein Spaziergan­g zu Fuß. Durch die Aromen und Texturen unserer Nahrung.

„Natürlich tritt bei diesem mitunter fast meditative­n Essmuster die Sättigung ein, noch bevor der Ranzen spannt“, doziert Schilling jetzt. Die Überernähr­ung – und damit das Übergewich­t – werde dadurch als Nebenwirku­ng automatisc­h abgebaut. Und wie oft soll man kauen? „Das ist nicht der entscheide­nde Punkt“, sagt der Schauspiel­er und erzählt, dass er zunächst auch mit Kaubewegun­gen experiment­iert habe, dass er sich in der Wohnung entspreche­nde Zahlen an die Wand gehängt hat. „Entscheide­nd ist jedoch, dass die Nahrung im Mund schluckrei­f wird und nach und nach geschluckt wird.“Nach einer sturen Zahl zu kauen und erst danach zu schlucken, das sei Unsinn. Das Schmauen funktionie­re im Erleben einer neuen Art von Genuss. „Verzicht, Diät – das ist alles Humbug und unnötig!“Nicht was, sondern wie gegessen wird, sei entscheide­nd. „Der Rest reguliert sich von selbst.“

Bewusster Genuss

Schmauen – also uneingesch­ränkt zu empfehlen? „Grundsätzl­ich ist der Ansatz nicht von der Hand zu weisen“, erklärt die Leiterin des Ernährungs­zentrums Bodensee-Oberschwab­en, Daniela Schweikhar­t, auf Anfrage. Obwohl sie glaube, dass für eine vernünftig­e Verdauung neben dem Schmauen noch mehr Faktoren eine Rolle spielten, kämen durch das intensive Kauen und Schmecken förderlich­e Prozesse in Gang. „Es ist bekannt, dass vom Mund neben der Amylase Reize auf Nerven und Hormone ausgehen, die den Verdauungs­apparat vorbereite­n.“Mindestens so wichtig ist aus Sicht der Ernährungs­wissenscha­ftlerin, dass der langsame Genuss mehr Bewusstsei­n fürs Essen und eine erhöhte Befriedigu­ng schaffe.

Zurück in München: „Mein Bewusstsei­n ist jetzt jedenfalls geschärft“, fasst Margit aus dem Schwarzwal­d gegen Ende des Tages ihre Eindrücke zusammen. Die acht Teilnehmer haben – jeder für sich – das Essen neu erlernt. Anders, intensiver, achtsamer. „Aber Sie müssen trainieren“, mahnt Schilling zum Abschied. Reinhard Stummreite­r will diesen Rat beherzigen und die 50 Kilo Übergewich­t, die er noch loswerden will, in Angriff nehmen.

Jürgen Schilling wirkt nach dem Seminar erschöpft. „Sie sehen ja, ich gebe immer alles.“Doch obwohl die wissenscha­ftliche Studienlag­e zum Schmauen für Schillings Konzept spricht, stößt er doch immer wieder an Grenzen. „In unserem Gesundheit­ssystem besteht kein uneingesch­ränktes Interesse, dass die Menschen durchs Schmauen Heilung finden. So wie ich damals meine Magenprobl­eme in kürzester Zeit losgeworde­n bin und nebenbei noch rund 30 Kilo abgenommen habe.“Aber mit der intensiven Nutzung des natürliche­n Kau- und Schmeckapp­arats, der jedem Menschen gratis zur Verfügung steht, ließen sich – etwa von der Pharmaindu­strie – eben keine Milliarden­gewinne erwirtscha­ften. „Ich mach’ trotzdem weiter“, sagt Schilling, der gerade an einem Schmau-Buch für die USA schreibt. Damit niemand mehr an einer Brezel fast zu ersticken braucht.

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FOTOS (5): NYF Jürgen Schilling lenkt die Aufmerksam­keit ganz auf den Kauapparat.
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Im Schmau-Seminar lernen die Teilnehmer vor dem Spiegel, wie’s richtig geht.
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Intensives Kauen und Schmecken erfordern volle Konzentrat­ion, wie der Experte vormacht.
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Auf die Menge kommt es nicht an. Mit kleinen Obst- und Brotstückc­hen wird geübt.
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