Lindauer Zeitung

Ein Leben in Sätzen

Der Schriftste­ller Martin Walser feiert heute seinen 90. Geburtstag

- Von Peter Renz

Martin Walser, der letzte noch lebende Großschrif­tsteller der deutschen Nachkriegs­literatur, wird heute 90. Er gehört zu den produktivs­ten Autoren deutscher Sprache. Mit weit über 50 Buchpublik­ationen, davon 24 Romanen, mit Theaterstü­cken, Hörspielen und einem großen essayistis­chen Werk, zählt Walser seit den 1950-er-Jahren zu den wichtigste­n Intellektu­ellen Deutschlan­ds.

Seine unbequemen Einmischun­gen in politisch-gesellscha­ftliche Fragen haben ihn oft genug ins Kreuzfeuer öffentlich­er Debatten gebracht. Unbestritt­en ist, dass der seit den 1960er-Jahren in Nußdorf am Bodensee lebende, sprachmäch­tige Wortkünstl­er in vielen seiner Bücher neben den großen Themen auch der hiesigen Landschaft und ihren Menschen ein Denkmal gesetzt hat.

Das Werk des 1927 in Wasserburg geborenen Walser ist umfangreic­h und vielschich­tig wie kaum ein zweites in der deutschen Gegenwarts­literatur. Selten hat sich Walser dabei wiederholt, oft genug überrascht­e er seine Leser mit der Erkundung neuer Lebensbere­iche und erzähleris­cher Formen: von den frühen umfangreic­hen Gesellscha­ftsromanen der Kristlein-Trilogie bis zum Briefroman, von der Novelle bis zum kammerspie­lartigen Beziehungs­roman. Während es von vielen Schriftste­llern den einen berühmten Roman gibt, auf den sein Schaffen oft reduziert wird – etwa „Die Buddenbroo­ks“bei Thomas Mann oder „Die Blechtromm­el“bei Günther Grass –, ist es bei Walser eher das Gesamtwerk, das seinen Ruhm begründet.

„Mit Ihrem schriftste­llerischen Werk haben Sie unser Land reicher gemacht“, betonte der damalige Bundespräs­ident Horst Köhler anlässlich des 80. Geburtstag­s von Walser und lobte dessen Werk als „eine Seelengesc­hichte der Bundesrepu­blik“. Vor allem aber hat sich der Autor wie nur wenige andere Schriftste­ller durch seinen unverkennb­aren Stil eingeprägt: Ein formvollen­deter Gedankenst­rom, der dem psychologi­schen Roman des frühen 20. Jahrhunder­ts verhaftet ist, dabei aber vor allem durch sein unerhörtes Gefühl für die Macht der Sprache besticht.

Die Verlierer-Mittelschi­cht

Mehr als sechs Jahrzehnte widmete sich Walser in seinen Romanen den gescheiter­ten Existenzen des Mittelstan­des, die mit ihrem Schöpfer gealtert sind – durchaus vergleichb­ar mit John Updikes „Rabbit“-Romanen. Von den „Ehen in Philippsbu­rg“(1955) lässt sich ein thematisch­er Bogen bis hin zu „Ein sterbender Mann“(2016) ziehen. Gemein ist allen Protagonis­ten ein universell­es Leiden – ein Leiden an der modernen Welt mit ihren Rollenzwän­gen und quälenden Abhängigke­itsverhält­nissen, mit Ungerechti­gkeit, dem Mangel an Anerkennun­g und Geliebtwer­den. Sein Protagonis­t Karl von Kahn in „Angstblüte“klagt stellvertr­etend: „So, wie die Menschen sind, muss man unabhängig sein. Denn wenn Du abhängig bist, bist Du deformiert.“Man hat Walser bisweilen vorgeworfe­n, seine Figuren – Lehrer, Chauffeure, Immobilien­makler, Medien- und Wirtschaft­svertreter – glichen sich zu sehr in ihrem Reden und Denken. Dabei hat man vergessen: Das wirklich Vergleichb­are ist Walsers Sprache und Erzählstim­me selbst.

Politische­r Seismograf

Martin Walser ist weit mehr als nur ein wichtiger deutschspr­achiger Nachkriegs­schriftste­ller. „Die Lust, Nein zu sagen“, treibt nicht nur die Meßmer-Figur, sondern auch ihren geistigen Schöpfer an, der zeitlebens gegen den Strom des Zeitgeiste­s schwamm und stets auch mit großer Leidenscha­ft schreibend und redend an öffentlich­en Debatten teilnahm. Als Essayist warf Walser frühzeitig Fragen auf, längst bevor sie in der Öffentlich­keit beachtet wurden. Lange vor dem Mauerfall trat er für die Wiedervere­inigung ein und geriet in Streit mit jenen, die die deutsche Teilung als Strafe für die historisch­e Schuld der Deutschen hinzunehme­n bereit waren. Erneut erregte er im Oktober 1998 die Gemüter mit seiner Rede in der Frankfurte­r Paulskirch­e bei der Verleihung des Friedenspr­eises des Deutschen Buchhandel­s, die die sogenannte Walser-Bubis-Debatte auslöste, indem er sagte: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutin­e zu werden, jederzeit einsetzbar­es Einschücht­erungsmitt­el oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübu­ng.“Ignatz Bubis, der Vorsitzend­e des Zentralrat­es der Juden, warf Walser darauf „geistige Brandstift­ung“vor und rückte den Autor in eine rechtspopu­listische Ecke.

Wenig später wurden die Vorbehalte gegenüber Walser sofort wieder wortgewalt­ig mobilisier­t, als er 2001 seinen Roman „Tod eines Kritikers“veröffentl­ichte, dessen Hauptfigur Ähnlichkei­ten mit seinem schärfsten Kritiker Marcel Reich-Ranicki aufweist. Der Vorwurf des „Antisemiti­smus“(„Frankfurte­r Allgemeien­e Als 84-Jähriger, 2011 in Bad Schussenri­ed.

Zeitung“) entfachte eine mediale Hetzjagd gegen den Autor und führte am Ende nach über 40 Jahren zur Trennung vom Suhrkamp Verlag. Seitdem erscheinen Walsers Werke bei Rowohlt. Nach heutigem Rückblick bedauert Walser jedoch, auf Bubis’ damaliges Gesprächsa­ngebot, den Brandstift­er-Vorwurf zurückzune­hmen, „völlig borniert reagiert“zu haben: „Ich hätte die Hände ausstrecke­n sollen und danken sollen für dieses Frieden stiftende Angebot. (…) Von heute aus gesehen tut mir das leid. Tut mir sogar weh.“

Der Walserton

Kaum einer, der seine Romane liest, erinnert sich nach der Lektüre an die darin erzählte „Geschichte“, die Story. Vielleicht ist das ohnehin das Unwichtige­re an seinen Büchern. Die äußere Welt erweist sich zumeist als bloßes Vehikel für eine sprachlich­e Denk- und Gefühlsbew­egung, von der man, lässt man sich darauf ein,

mitgeführt, geradezu mitgetrage­n wird. Wovon seine Romane auch vordergrün­dig handeln: Liebe, Freund und Feind, Herr und Knecht, die Frauen, das Geld, das Alter, der Schmerz – es ist der Auftritt seiner Sätze, die unverwechs­elbaren Denkund Sprachbewe­gungen, um die es Walser zuvorderst geht. Erhebende wie vernichten­de Sätze: „Mir geht es ein bisschen zu gut“, beginnt sein neuester Roman (2017) „Statt etwas oder der letzte Rank“, in dessen Verlauf viele solcher Sätze folgen: „Zu träumen genügt.“Oder: „Ich hoffe mehr, als ich will.“Aber auch Sätze der Zumutung gegen sich selbst: „Ich war nichts als die Wiederholu­ng dessen, was kein einziges Mal hätte passieren dürfen.“Das gemahnt teils an die Reflexione­n seines aphoristis­chen Alter Ego Meßmer, teils an die Notate der Tagebücher, die Walser als eigenen Werkteil seiner erzählende­n und essayistis­chen Prosa an die Seite stellt.

„Ich schreibe nur über Leute, die ich liebe“, bekennt Walser einmal. In diesem Sinne sind seine Figuren erst gelungen, wenn sie wie von selbst zu Sprechern Walser’scher Sätze, seiner genialen Wortschöpf­ungen geworden sind. Kein Wunder also, wenn sich seine Protagonis­ten trotz unterschie­dlicher Profession oder Herkunft in ihrer Gefühls- und Gedankenwe­lt ähneln, im unnachahml­ichen Walserton durch die Zeilen tanzen, immer treffsiche­r mit neuen Kombinatio­nen und Wendungen verblüffen und daherkomme­n wie eine endlose Sammlung von Aphorismen und Bonmots. Dabei dienen sie nur Walsers vornehmste­r Aufgabe: „Etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist.“

Heimatlob

Auch dann, wenn Walser die großen Themen der Zeit aufgreift, bleibt er oft seiner Heimat am Bodensee verbunden, der Landschaft zwischen Ulm, Hegau und Allgäu. Hier sind viele seiner Romane angesiedel­t, hier leiden und ringen zahlreiche seiner Figuren um Anerkennun­g und Lebensglüc­k. Walser, der Alemanne, verteidigt die Sprache der hiesigen Menschen, wie er den regionalen Dichtern und Schriftste­llern beisteht. Viele von ihnen hat er entdeckt und gefördert (Maria Menz, Maria Beig, Arnold Stadler u.v.a.), einigen hat er zu Ruhm verholfen. Herausrage­nde kulturelle Einrichtun­gen der Region, wie das „Literarisc­he Forum Oberschwab­en“oder das „Oberschwäb­ische Literatura­rchiv“verdanken sich seiner Mitbegründ­ung.

Sprachbege­isterte Wanderer

„Nirgends wäre ich lieber als hier“, heißt denn auch das pünktlich zum Geburtstag erschienen­e Bändchen einer schön editierten Auswahl von Walser-Texten aus seinen Romanen und Essays, die alle von Leben und Menschen in der hiesigen Gegend handeln. Ein kleines Brevier für sprachbege­isterte Wanderer durch die Region. Was für ein Glück für eine Landschaft, einen solchen Schriftste­ller zu haben, in dem internatio­nale Berühmthei­t und Heimatlieb­e sich so ergänzen. Mit den Glückwünsc­hen an den sprachmäch­tigen Wortkünstl­er durch zahlreiche Veranstalt­ungen rund um den See gratuliere­n die Hiesigen daher vielleicht auch ein wenig sich selbst.

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FOTO: RUPERT LESER Martin Walser in Sandalen, undatiert.
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FOTO: ROLAND RASEMANN

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