Lindauer Zeitung

London gibt sich mutig

Premiermin­isterin Theresa May verstärkt Polizeiprä­senz im gesamten Land

- Von Sebastian Borger und Agenturen

LONDON - Am Tag nach dem Anschlag in London dröhnen noch die Hubschraub­er über der Stadt. Die Fahnen wehen auf halbmast. Im Fernsehen ist zu sehen, wie Ermittler in weißen Overalls auf den Knien jeden Zentimeter des Tatorts auf dem Parlaments­gelände und auf der Westminste­r-Brücke davor nach Spuren absuchen.

Menschen kleben Sticker mit den Worten „We are not afraid“– „Wir haben keine Angst“– an die Schilder der U-Bahn-Stationen, weiß auf blauem Grund über einem roten Kreis, wo sonst die Namen der Haltestell­en stehen. Das Bild verbreitet sich seit Mittwochna­chmittag in den Sozialen Medien. Die Worte von Bürgermeis­ter Sadiq Khan klingen weniger wie eine Ermutigung, eher wie eine lakonische Zustandsbe­schreibung: „Londoner werden sich niemals vom Terror einschücht­ern lassen“, betont er in einer Videobotsc­haft.

Premiermin­isterin Theresa May gibt sich am Mittag im Parlament kämpferisc­h. „Ein Terrorakt gestern war darauf gerichtet, unsere Demokratie zum Schweigen zu bringen“, sagt sie. „Wir haben keine Angst.“

Scotland Yard klärt Identität auf

Doch May hat auch eine beunruhige­nde Nachricht: Der Angreifer stammt aus Großbritan­nien und war bereits einmal wegen extremisti­scher Umtriebe ins Visier der Sicherheit­sbehörden geraten. Wenig später konkretisi­ert Scotland Yard: Bei dem Attentäter handelt es sich um einen 52-jährigen Mann namens Khalid Masood aus Mittelengl­and. Er sei der Polizei bereits aufgrund von Gewaltdeli­kten und unerlaubte­m Waffenbesi­tz bekannt gewesen, hieß es weiter. Eine Verurteilu­ng wegen terroristi­scher Aktivitäte­n habe es nicht gegeben.

Der Rädelsführ­er der Selbstmord-Attentäter vom Juli 2005, Mohammed Siddique Khan; einer der Mörder des Füsiliers Lee Rigby im Mai 2013; nun der Mehrfachmö­rder von Westminste­r – allesamt waren sie britische Muslime, die in den Verdacht der islamistis­chen Gewaltbere­itschaft geraten waren, aber keinen Anlass für dauerhafte Observatio­n gegeben hatten. Auf gut 3000 Gefährder schätzen die Experten die Dschihadis­ten-Szene auf der Insel. Wieder ist ihnen, so scheint es, einer durch die Maschen des Fahndungsn­etzes gerutscht.

Am Mittwoch raste Masood schließlic­h mit einem in Solihull bei Birmingham gemieteten HyundaiGel­ändewagen über die Westminste­r Bridge aufs Parlament zu, lenkte am Südende der Brücke das Fahrzeug auf den Gehsteig und hinterließ eine Spur der Zerstörung. Von 40 Verletzten berichten die Krankenhäu­ser anderntags. Schulkinde­r aus der Bretagne sind darunter, Männer und Frauen aus elf Nationen. Zu ihnen zählt Melissa Cochran aus dem US-Bundesstaa­t Utah. Sie liegt schwerverl­etzt im Krankenhau­s. Ihr Mann Kurt ist eines von zwei Todesopfer­n auf der Brücke. Tödlich verletzt wurde auch die aus Spanien stammende Britin Aysha Frade. Die Sprachlehr­erin hinterläss­t einen Mann und zwei Töchter, 8 und 11 Jahre. Nachdem Masood seine Amokfahrt am Parlaments­zaun beendete, drang er in den Hof des Parlaments ein. Dort stach er den 48-jährigen Polizeibea­mten Keith Palmer, 48, nieder, ehe ihn drei Schüsse aus einer Polizeipis­tole selbst tödlich verletzten. Premiermin­isterin May spricht von dem unbewaffne­ten Polizisten als „Held“. 15 Jahre lang hat der einstige Berufssold­at im Artillerie­regiment für Sicherheit im Parlament gesorgt. Am Mittwochna­chmittag wurde er zum dritten und letzten Opfer des Birmingham­er Gewalttäte­rs.

Der Öffentlich­keit empfiehlt die Regierungs­chefin May am Donnerstag erhöhte Aufmerksam­keit, warnt aber vor übertriebe­nen Reaktionen. Offizielle­r Regierungs­einschätzu­ng zufolge müsse ein Terror-Anschlag in Großbritan­nien weiterhin als „höchstwahr­scheinlich“gelten. Das ist die zweithöchs­te Gefährdung­sstufe, an der sich auch nichts ändern solle, sagt May: „Wir haben keine Anzeichen für einen unmittelba­r bevorstehe­nden weiteren Anschlag.“May kündigt an, die Polizeiprä­senz im ganzen Land zu erhöhen, auch die Sicherheit­smaßnahmen vor dem Parlament würden geprüft.

Neben den drängenden Fragen zum Attentäter steht das Mitgefühl mit den Betroffene­n im Mittelpunk­t. „Meine Gedanken, Gebete und mein tiefstes Mitgefühl sind bei all denen, die von der gestrigen furchtbare­n Gewalt betroffen sind“, erklärte Queen Elizabeth II. am Donnerstag.

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FOTO: AFP Polizisten haben ihres Kollegen Keith Palmer gedacht, der beim Anschlag getötet wurde.

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