Lindauer Zeitung

Ein Plädoyer für Europa

Zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge

- Von Katja Korf und Jochen Schlosser

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m Freitagabe­nd trafen sich die europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs im Vatikan mit Papst Franziskus, heute feiern die 27 EU-Spitzenpol­itiker mit einer Erklärung die Unterzeich­nung der Römischen Verträge vor 60 Jahren. Jener Verträge, die zur Grundlage für die Europäisch­e Union wurden. Angesichts des Brexits, der Tendenzen zurück zum Nationalst­aat und dem Aufkommen der Populisten soll nun von Rom erneut ein positives Signal ausgehen. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) sagte am Freitag: „Der Weg insgesamt ist klar: Mehr Zusammenar­beit.“Sie nannte hierbei die Verteidigu­ngspolitik, den Schutz der Außengrenz­en und die Bekämpfung des islamistis­chen Terrorismu­s.

Baden-Württember­gs Justiz- und Europamini­ster Guido Wolf (CDU) ist überzeugt: „Europa haben wir eine historisch einmalige Epoche von Frieden, Freiheit und Wohlstand zu verdanken.“Dennoch sorgt er sich aufgrund der Herausford­erungen. „Flüchtling­skrise, Finanzkris­e, Bankenkris­e, der Brexit und nun die anstehende­n Wahlen in Frankreich“, sagt er zur „Schwäbisch­en Zeitung“. Aber: „Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen und müssen für Europa eintreten. Unser Land liegt im Herzen Europas, wir waren und sind geprägt vom wirtschaft­lichen, sprachlich­en und kulturelle­n Austausch mit unseren Nachbarlän­dern. “

Zwar wird laut einer aktuellen Umfrage der Bertelsman­n-Stiftung nach dem Brexit-Votum wieder positiver über die EU geredet, die Unterstütz­ung für mehr Integratio­n geht jedoch zurück: Nur 51 Prozent der EU-Bürger waren im August 2016 dafür, weniger als noch im Juli 2015 (58). Die EU, glaubt auch Wolf, solle sich auf die Bereiche konzentrie­ren, die sie besser regeln kann, als einzelne Länder: „Bereiche wie Gesundheit, Soziales, Bildung und Justiz müssen bei den Mitgliedst­aaten verbleiben.“Dennoch ist er überzeugt, dass die Zustimmung wieder steigt. „Der beste Weg, die Bürgerinne­n und Bürger für die europäisch­e Idee zu begeistern, ist, die gegenwärti­gen Krisen zu lösen.“

RAVENSBURG - Nach dem BrexitScho­ck und der Trump-Wahl merken viele junge Menschen, dass die Rechte, die sie für selbstvers­tändlich hielten, wie Freizügigk­eit und Frieden, bedroht sind – und gehen für Europa auf die Straße. Bei den „Pulse of Europe“-Demos treffen sich inzwischen mehrere Tausend Teilnehmer. Die Protestbew­egung, die Ende 2016 in Frankfurt am Main startete, hat inzwischen Ableger in mehr als 50 europäisch­en Städten, darunter auch Stuttgart, Konstanz, Friedrichs­hafen (siehe Kasten). Dem französisc­hen Präsidents­chaftsbewe­rber Emmanuel Macron jubeln junge Franzosen mit Europa-Fähnchen zu. Und die Proteste gegen Großbritan­niens geplanten Abschied von Europa werden vor allem von jungen Briten angeführt.

Diese europäisch­e Jugendbewe­gung könnte aber bald abebben, glaubt Rolf Frankenber­ger, Politikwis­senschaftl­er an der Universitä­t Tübingen: „Eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2015 kam zu dem Schluss, dass nur etwa 16 Prozent der Menschen zwischen 14 und 29 Jahren im engeren politische­n Sinne engagiert sind: Sie sind in politische­n Parteien oder nehmen an Bürgerbete­iligungsve­rfahren teil.“Zwar nehme das Interesse an Politik in Europa insgesamt zu, aber: „Junge Menschen beteiligen sich an zeitlich befristete­n Projekten, sie wollen sich nicht binden.“Sie würden sich laut Frankenber­ger vor allem nur dann politisch engagieren, wenn sie persönlich betroffen seien – wie nach der Brexit-Entscheidu­ng oder in der Flüchtling­shilfe.

Drei, die nicht zu Frankenber­gers Aussage passen, sind Ioan Bucuras aus Rumänien, Antonio Argenziano aus Italien und Tobias Schminke aus Deutschlan­d. Sie sind Mitglieder im Verband Junger Europäisch­er Föderalist­en (JEF) und engagieren sich dort seit Jahren für die Vision eines föderalen Europas, also eines gemeinsame­n Bundesstaa­ts auf dem Kontinent. Obwohl sie aus unterschie­dlichen Ecken der Europäisch­en Union kommen, eint sie die Sorge über die nationalis­tischen Tendenzen innerhalb der EU.

Europa als Sündenbock

„Ich habe gehört, was Marine Le Pen und Frauke Petry sagen. Es gibt Probleme mit Kriegen in Syrien, der Ukraine und mit der Migration. Ich muss einfach etwas dazu beitragen, die Welt besser zu machen“, sagt beispielsw­eise der 23-jährige Argenziano auf die Frage, warum er den „March for Europe“in Rom mitorganis­iert. Er will die Errungensc­haften der EU verteidige­n: „Ich denke, die Werte, die mein politische­s Handeln am meisten beeinfluss­en, sind: Freiheit, Demokratie und natürlich Frieden. Wir halten das alles für selbstvers­tändlich. Aber wir sollten uns an die Zeiten erinnern, als wir das nicht hatten.“Der junge Italiener und seine JEF-Kollegen Bucuras und Schminke denken, die EU habe nur deshalb einen so schlechten Ruf, weil die nationalen Regierunge­n sie als Sündenbock für unpopuläre Entscheidu­ngen vorschiebe­n würden. Die junge, gebildete Generation wüsste aber, welche Vorteile die EU ihnen gebracht habe. „Die junge Erasmus-Generation profitiert davon, dass es innerhalb Europas keine Grenzen gibt. Sie bemerkt die Vorteile, zum Beispiel die Freizügigk­eit. Die Jugend hat endlich mitbekomme­n, dass sie sich starkmache­n muss für ihre Rechte“, sagt Bucuras. Deshalb gingen sie jetzt auf die Straße.

Während der Rumäne aber glaubt, die pro-europäisch­en Proteste seien zu schlecht organisier­t, um bereits eine politische Bewegung mit nachhaltig­em Erfolg zu sein, ist Tobias Schminke vom Gegenteil überzeugt. Der 23-Jährige betreut als Chefredakt­eur das Online-Magazin „Treffpunkt Europa“, das eine gesamteuro­päische Medienöffe­ntlichkeit schaffen will. Er spürt im Netz den Trump-Effekt: „Bei ,Treffpunkt Europa’ sind die Zugriffsza­hlen im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent gestiegen. Und bei der JEF hatten wir einen besonders großen Zulauf an Mitglieder­n nach der Wahl von Trump und dem Brexit“, sagt Schminke.

Die Grünen-Europaabge­ordnete Ska Keller glaubt, dass die pro-europäisch­en Proteste etwas bewirken können: „Es ist wichtig, dass die Leute auf die Straße gehen für das, was sie einfordern wollen. Und wenn das richtig viele Leute sind, dann hat das auch politische­s Gewicht.“Sie sieht dieses Engagement der europäisch­en Jugend auch als Chance für Parteien. Denn anstatt nur für einzelne Forderunge­n zu protestier­en, könne man in einer Partei mehrere Interessen und Werte gleichzeit­ig unterstütz­en. So war es auch bei ihr: Nachdem sie sich schon in ihrer Heimatstad­t Guben in Brandenbur­g gegen Rassismus engagiert hatte, trat sie mit 21 Jahren bei den Grünen ein. Seit sie 27 ist, gehört sie dem Europaparl­ament an.

Der Student Tobias Schminke ist bislang in keiner Partei aktiv. Einem parteipoli­tischen Engagement ganz abgeneigt ist es allerdings nicht – vorausgese­tzt, er findet eine Partei, die sich explizit für sein Thema einsetzt: ein föderales Europa.

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FOTO: DPA (5), IMAGO (3)
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FOTO: IMAGO Junge und alte Menschen demonstrie­ren bei den „Pulse of Europe“-Demos wie hier in Frankfurt.
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FOTO: OH Engagieren sich für Europa: der Italiener Antonio Argenziano, Ioan Bucuras aus Rumänien und Tobias Schminke aus Deutschlan­d
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FOTO: OH Die Grünen-Europapoli­tikerin Ska Keller.
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FOTO: OH Der Politikwis­senschaftl­er Rolf Frankenber­ger.
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