Ein einziges Mal den Kindern das Meer zeigen
Im Stadttheater Lindau sorgt das Stück „Meeresrand“für Gänsehaut
LINDAU (hipp) - Die Bühne ist in blaues Licht getaucht. Blau wie das Meer es sein sollte. Aber das ist es nicht, wenn eine alleinerziehende Mutter mit ihren zwei Kindern ans Meer fährt. Für die Busfahrt hat die Sozialhilfeempfängerin ihren letzten Geldschein eingesetzt. Die Zuschauer im nicht voll besetzten Lindauer Stadttheater erleben mit „Meeresrand“ein Stück, das in seiner Hoffnungslosigkeit und Verlorenheit seinesgleichen sucht.
Ein Stück, basierend auf dem Roman von Véronique Olmi, in dem Schauspielerin Gilla Cremer in atemlos machender Intensität ein Leben voll innerer und äußerer Nöte offenlegt. Eines, das ausweglos erscheint. Sie muss lange schlafen, die Mutter, und sich dann mittags noch mal hinlegen. Weil nachts die Panik hochkommt, die sich anfühlt, als ob sich jemand auf ihren Brustkorb setzt. Sie erzählt, wie das so ist mit Stan und Kevin, den beiden Söhnen. Wenn der Ältere klaglos den Jüngeren morgens in die Vorschule bringt. Zu Marie Helene, der Lehrerin, die die Mutter schon mal kommen lässt, um zu fragen, warum Kevin wieder keine Turnschuhe dabei hat.
Die Kinder haben sich den Umständen angepasst, also hat der Blick der Mutter auf sie etwas Zärtliches. Wenn nur der Schatten einer Mutter und ein Cello übrigbleiben.
Und sie hat sich geschworen, ihnen einmal das Meer zu zeigen. Die Busfahrt ist lang. Endet in einer „Kleinstadt am Meeresrand, eingekeilt zwischen Autobahn und Ozean“, in einem schäbigen Hotel, in dem der fünfjährige Kevin lernt, im Stehen zu pinkeln. Patrick Cybinski unterstreicht am Cello die Momente, in denen Dramatik ins Spiel kommt und
wieder abklingt. Wenn das Wiedersehen mit den Ungeheuern ansteht, die der Mutter sagen, dass sie alles falsch gemacht hat und alles noch schlimmer werden kann. Und die Sozialarbeiterin doch darauf hingewiesen hat, sie müsse unbedingt darauf achten, solche Anfälle in Gegenwart kleiner Kinder zu vermeiden. Die auch gefragt hat, ob sie, die Mutter, trinkt. Was sie nicht tut. Sie kann nur nicht gut mit Geld umgehen. Mit Kleingeld, das sie in einer Teedose gesammelt hat, will sie im Café die heiße Schokolade für die Buben und ein Extra-Cola für Kevin zahlen. Der Wirt fegt empört die Centstücke vom Tisch. Wieder mal ein Moment zum Schämen, auch für die Kinder.
Fragen tauchen auf: „Wie begrüßt man das Meer?“Und auch Bitten: „Mama, lass uns nach Hause fahren.“Schließlich ist morgen Vorschule. Aber dafür gibt es ja Zaubersätze im Leben. „Ich schreibe dir eine Entschuldigung“, sagt die Mutter. Auf dem Jahrmarkt bekommen die Kinder Pommes, dürfen Autoscooter fahren. Nass und durchgeweicht sind sie, auch ihre abgetragenen Klamotten und die Schuhe, die aus dem Leim gehen. Und müde sind sie, die beiden Jungs, schlafen auf dem Hotelbett ein.
Harte Kost mit verstörendem Ende
Das Ende des Theaterstücks lässt einen erschaudern, verstört zutiefst. Sie sollen sich nie mehr schämen müssen, die Buben. „Zuerst der Kleine“, beschließt die Mutter, nimmt das Kissen und drückt es ihm ins Gesicht, bis er nicht mehr atmet. Dann macht sie das Gleiche mit dem neunjährigen Stan. Sie küsst die Kinder, denn sie weiß: „Man muss die Toten immer küssen.“Und dann wird die Bühne dunkel, tritt erstmal Totenstille ein. Bis der Beifall für Gilla Cremer und Patrick Cybinski kommt, der gar nicht mehr aufhören will. „Danke, dass Sie das zusammen mit mir durchgestanden haben“, sagt Cremer. Harte Kost, starker Tobak, Kinderarmut eben. Gegen die sich sogar was tun ließe.