Lindauer Zeitung

Ein einziges Mal den Kindern das Meer zeigen

Im Stadttheat­er Lindau sorgt das Stück „Meeresrand“für Gänsehaut

- Von Maria Luise Stübner

LINDAU (hipp) - Die Bühne ist in blaues Licht getaucht. Blau wie das Meer es sein sollte. Aber das ist es nicht, wenn eine alleinerzi­ehende Mutter mit ihren zwei Kindern ans Meer fährt. Für die Busfahrt hat die Sozialhilf­eempfänger­in ihren letzten Geldschein eingesetzt. Die Zuschauer im nicht voll besetzten Lindauer Stadttheat­er erleben mit „Meeresrand“ein Stück, das in seiner Hoffnungsl­osigkeit und Verlorenhe­it seinesglei­chen sucht.

Ein Stück, basierend auf dem Roman von Véronique Olmi, in dem Schauspiel­erin Gilla Cremer in atemlos machender Intensität ein Leben voll innerer und äußerer Nöte offenlegt. Eines, das ausweglos erscheint. Sie muss lange schlafen, die Mutter, und sich dann mittags noch mal hinlegen. Weil nachts die Panik hochkommt, die sich anfühlt, als ob sich jemand auf ihren Brustkorb setzt. Sie erzählt, wie das so ist mit Stan und Kevin, den beiden Söhnen. Wenn der Ältere klaglos den Jüngeren morgens in die Vorschule bringt. Zu Marie Helene, der Lehrerin, die die Mutter schon mal kommen lässt, um zu fragen, warum Kevin wieder keine Turnschuhe dabei hat.

Die Kinder haben sich den Umständen angepasst, also hat der Blick der Mutter auf sie etwas Zärtliches. Wenn nur der Schatten einer Mutter und ein Cello übrigbleib­en.

Und sie hat sich geschworen, ihnen einmal das Meer zu zeigen. Die Busfahrt ist lang. Endet in einer „Kleinstadt am Meeresrand, eingekeilt zwischen Autobahn und Ozean“, in einem schäbigen Hotel, in dem der fünfjährig­e Kevin lernt, im Stehen zu pinkeln. Patrick Cybinski unterstrei­cht am Cello die Momente, in denen Dramatik ins Spiel kommt und

wieder abklingt. Wenn das Wiedersehe­n mit den Ungeheuern ansteht, die der Mutter sagen, dass sie alles falsch gemacht hat und alles noch schlimmer werden kann. Und die Sozialarbe­iterin doch darauf hingewiese­n hat, sie müsse unbedingt darauf achten, solche Anfälle in Gegenwart kleiner Kinder zu vermeiden. Die auch gefragt hat, ob sie, die Mutter, trinkt. Was sie nicht tut. Sie kann nur nicht gut mit Geld umgehen. Mit Kleingeld, das sie in einer Teedose gesammelt hat, will sie im Café die heiße Schokolade für die Buben und ein Extra-Cola für Kevin zahlen. Der Wirt fegt empört die Centstücke vom Tisch. Wieder mal ein Moment zum Schämen, auch für die Kinder.

Fragen tauchen auf: „Wie begrüßt man das Meer?“Und auch Bitten: „Mama, lass uns nach Hause fahren.“Schließlic­h ist morgen Vorschule. Aber dafür gibt es ja Zaubersätz­e im Leben. „Ich schreibe dir eine Entschuldi­gung“, sagt die Mutter. Auf dem Jahrmarkt bekommen die Kinder Pommes, dürfen Autoscoote­r fahren. Nass und durchgewei­cht sind sie, auch ihre abgetragen­en Klamotten und die Schuhe, die aus dem Leim gehen. Und müde sind sie, die beiden Jungs, schlafen auf dem Hotelbett ein.

Harte Kost mit verstörend­em Ende

Das Ende des Theaterstü­cks lässt einen erschauder­n, verstört zutiefst. Sie sollen sich nie mehr schämen müssen, die Buben. „Zuerst der Kleine“, beschließt die Mutter, nimmt das Kissen und drückt es ihm ins Gesicht, bis er nicht mehr atmet. Dann macht sie das Gleiche mit dem neunjährig­en Stan. Sie küsst die Kinder, denn sie weiß: „Man muss die Toten immer küssen.“Und dann wird die Bühne dunkel, tritt erstmal Totenstill­e ein. Bis der Beifall für Gilla Cremer und Patrick Cybinski kommt, der gar nicht mehr aufhören will. „Danke, dass Sie das zusammen mit mir durchgesta­nden haben“, sagt Cremer. Harte Kost, starker Tobak, Kinderarmu­t eben. Gegen die sich sogar was tun ließe.

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FOTO: MARIA LUISE STÜBNER

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