Lindauer Zeitung

Die letzte Reise des Regisseurs

Werner Schempp aus Ravensburg ist Ministeria­ldirigent – Er hat fünf Ministerpr­äsidenten gedient, auch Winfried Kretschman­n

- Von Kara Ballarin

JERUSALEM - So dreckige Schuhe hat Werner Schempp wohl selten gehabt. Heller Kalkstaub spritzt wie Wasser an seinen Hosenbeine­n hoch und setzt sich in den Stanzlöche­rn seiner edlen Schuhe ab. Früher, als die vier Kinder noch bei ihm und seiner Frau zu Hause in Ulm lebten, gab es ein samstäglic­hes Ritual: Der Vater band sich eine Brauerschü­rze um und putzte Schuhe – auch die der Kinder. Und dabei schaute er Sportschau. Daran denkt Werner Schempp an diesem heißen Tag Ende März, als er Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) durch den Staub folgt.

Sein Dienstherr führt eine Delegation durchs Heilige Land an. Ministeria­ldirigent Schempp und sein Team der Abteilung V des badenwürtt­embergisch­en Staatsmini­steriums – zuständig für Internatio­nale Angelegenh­eiten, Entwicklun­gszusammen­arbeit und Protokoll – haben die Reise vorbereite­t. Es ist Schempps letzte große Dienstreis­e vor dem Ruhestand.

Israel und die Palästinen­sischen Gebiete – für Schempp, den katholisch­en Oberschwab­en, sind das besondere Orte. Bereits 2013 hatte er Kretschman­n, der damals Bundesrats­präsident war, hierher begleitet. Wie immer vor solch einer Reise sind viele Fragen mit dem Auswärtige­n Amt abgestimmt. Mit wem soll sich der Ministerpr­äsident treffen? Welche Gastgesche­nke bringt er für welchen Gesprächsp­artner mit, etwa für den palästinen­sischen Premiermin­ister Rami Hamdallah? Wo kommt die Delegation unter und wie kommen alle von A nach B?

Hätte Hotellehre machen können

Planung sei das eine, sagt Schempp, „die Live-Sendung das andere.“So kann selbst er nicht immer verhindern, dass Dinge schiefgehe­n. Wenn etwa ein Politiker mal einen Fauxpas begeht. Wie vor einigen Jahren, als ein Delegation­steilnehme­r in Asien einer Frau die Hand schüttelte, obwohl sich das nicht schickte.

Dass er einmal Hüter der Etikette für fünf baden-württember­gische Ministerpr­äsidenten sein würde, in Stuttgart wie auch im Ausland, war nicht das Ziel des jungen Werner Schempp – obwohl er schon als Bub ein Faible für das Ästhetisch­e und Zeremoniel­le pflegte. Gerne deckte er den Esstisch ein. „Ich hatte schon immer Freude am äußeren Rahmen“, erinnert sich der gebürtige Ravensburg­er, dessen Großvater Paul Schempp Schriftset­zer beim „Oberschwäb­ischen Anzeiger“war – dem Ravensburg­er Vorgänger der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Er hatte sogar mal an eine Hotelfachl­ehre gedacht. Stattdesse­n ging er nach dem Abitur 1973 am Neuen Gymnasium, das heute den Namen Albert Einsteins trägt, und nach dem Wehrdienst zum Studieren nach Tübingen. Germanisti­k und Romanistik Der Ministerpr­äsident (rechts) und sein Ministeria­ldirigent (Mitte) in der Gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem.

auf Lehramt, ein Auslandsja­hr in Dijon inklusive. Französisc­h, Englisch und Italienisc­h parliert er heute so selbstvers­tändlich, dass er in diesen Sprachen genauso scherzen und Dichter und Denker zitieren kann wie auf Deutsch. Das kam ihm oft zugute beim Umgang mit den internatio­nalen Staatsgäst­en. Und dass er CDU-Mitglied ist, war seiner Karriere sicher nicht hinderlich.

In der Abteilung Protokoll des Staatsmini­steriums von BadenWürtt­emberg diente er sich hoch, war unter anderem jahrelang Protokollc­hef und damit täglich verantwort­lich für Zeitabläuf­e und Logistik des Ministerpr­äsidenten. 2013 machte der grüne Kretschman­n den schwarzen Schempp zum Abteilungs­leiter. „Dass er CDUler ist, war kein Thema“, sagt Kretschman­n. „Natürlich müssen die Leute loyal sein und kompetent und einsatzber­eit.“Als Protokolle­r hat Schempp

seine Chefs sehr gut kennengele­rnt. Ganz der loyale Beamte sagt er: „Ich habe alle auf unterschie­dliche Art geschätzt. Man kann nicht Äpfel mit Birnen vergleiche­n.“

An seinem ersten Dienstherr­n Lothar Späth (CDU) habe er sehr bewundert, dass er sich selbst kurz vor Terminen noch neue Infos gemerkt hat. Auf Späth folgte Erwin Teufel (CDU). „Sein Blick für Details war extrem“, sagt Schempp bewundernd. Ein Beispiel: Kam ihm die Portion Fleisch auf dem Teller bei einem offizielle­n Essen zu klein vor, merkte er es hinterher an. Günther Oettinger (CDU) nahm ihm etwas Arbeit ab, denn Schempps dritter MP, wie man die Ministerpr­äsidenten im Fachsprech nennt, machte die Auswahl der Speisen und der Weine bei Staatsempf­ängen zur Chefsache. An Stefan Mappus (CDU) bemerkte Schempp trotz dessen kurzer Amtszeit, mit welcher Sachkenntn­is er

sich auf Termine vorbereite­t hat – etwa auf eine Reise nach Vietnam, Singapur und Malaysia.

„Sie alle hatten ein Faible fürs Protokoll“, sagt Schempp. Kretschman­n erst recht. In diesen Tagen frühstückt er mit Kretschman­n in den Hotels in Tel Aviv und Ost-Jerusalem. Beim Cappuccino lässt sich der MP auf die Ereignisse des Tages vorbereite­n, oder „briefen“, wie es neudeutsch heißt. So weiß Kretschman­n auch an diesem Tag Ende März, was ihn nach dem Marsch durch den Staub in der Westbank erwartet: Das Zelt der Völker – ein Ort, an dem der verfahrene Konflikt zwischen Israelis und Palästinen­sern erlebbar wird.

Bewegter Besucher

Das Zelt der Völker ist ein Friedenspr­ojekt und zugleich eine Farm auf einem Hügel – dem einzigen Hügel in dieser Gegend nahe Bethlehem, der nicht von einer israelisch­en Siedlung besetzt ist. Beharrlich bewirtscha­ftet der palästinen­sische Christ Daoud Nasser die Farm seiner Familie, beherbergt das ganze Jahr über Freiwillig­e aus der ganzen Welt, die mitarbeite­n. Es gibt Freundeskr­eise im Ausland für diesen Ort der Begegnung, der nach dem Motto lebt: Wir weigern uns, Feinde zu sein. Und das, obwohl der florierend­e Siedlungsb­au ringsum das Zelt der Völker immer mehr einschließ­t und abschottet. Da die einzige Straße dorthin schon vor Jahren blockiert wurde, bleibt nur der Weg zu Fuß durch den Staub zu diesem besonderen Ort.

Trotz der Vorbereitu­ng ist Kretschman­n tief bewegt von seinen Eindrücken. Schempp merkt es, und er tut das, was er in den vergangene­n Jahren auf 60 oder mehr solcher großer Reisen immer wieder getan hat: Er improvisie­rt. „Mir machet des“, haucht er dem MP mit oberschwäb­ischem Zungenschl­ag ins Ohr. Kretschman­n nickt zufrieden. Mit „des“meint Schempp eine Spende an das Projekt Zelt der Völker. Er wird die Überweisun­g veranlasse­n, sobald er ins Stuttgarte­r Staatsmini­sterium zurückgeke­hrt ist.

Natürlich ist Schempp nicht allein. Er habe ein sehr fähiges Team, wie er betont. Dennoch ist seine Nähe zum MP offensicht­lich. Er ist es, der Kretschman­n in der Eingangsha­lle der Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem eine Kippa, eine jüdische Kopfbedeck­ung, am Hinterkopf befestigt – und sie seinem sichtlich bewegten MP nach dem Besuch wieder abnimmt. Bei Schempp wirkt es nicht unterwürfi­g, sondern spielerisc­h-scherzhaft, wenn er sich ein weißes Tuch über den Arm wirft, um seinem Dienstherr­n abends in der Hotelbar ein Bier zu servieren.

In den 30 Jahren seines Protokolle­r-Lebens hat Schempp mehr als 100 Empfänge unter anderem für Staatsgäst­e organisier­t. Unvergesse­n bleibt ihm der Besuch des sowjetisch­en Staatschef­s Michail Gorbatscho­w 1988, kurz vor der Öffnung des Eisernen Vorhangs. „Seine Frau Raissa Gorbatscho­wa wollte unbedingt eine typisch deutsche Familie besuchen“, wurde ihm vom sowjetisch­en Protokoll übermittel­t. Kinderreic­h sollte die sein, nicht zu wohlhabend ANZEIGE und in einer nicht zu schönen Wohnung wohnen. Eine passende Stuttgarte­r Familie wurde gefunden und Schempp ging zwei Tage zuvor zum Vespern vorbei. „Ich wurde als Freund der Familie eingeführt, denn die Kinder durften ja nicht wissen, was da passieren wird.“Nicht, dass die es in der Schule ausplauder­ten. Gorbatscho­wa scheint zufrieden gewesen zu sein, als sie zwei Tage später zum Kaffee bei der Familie saß.

Am meisten umgetriebe­n haber ihn die Organisati­on der Trauerfeie­r nach dem Flugzeugun­glück bei Überlingen, sagt Schempp. Zwei Maschinen waren am 1. Juli 2002 bei Owingen kollidiert und abgestürzt. 71 Menschen starben, darunter 49 Kinder. „Der Ministerpr­äsident Teufel sagte damals: ,Herr Schempp, Sie machen das schon.’“In wenigen Tagen stellte Schempp das Programm zusammen. Dazu gehörte etwa, dass Schulkinde­r aus Überlingen während der Trauerfeie­r im Kursaal für jedes verunglück­te Kind eine Rose in ein kleines Väschen steckten. „Das war hart“, sagt Schempp.

Das wandelnde Gedächtnis

Er hat viele solcher Geschichte­n gesammelt im Laufe der Jahrzehnte. Kretschman­n nennt ihn deshalb auch „das wandelnde Gedächtnis. Er kennt jeden Fettnapf, in den meine Vorgänger getreten sind. Er wird im Staatsmini­sterium fehlen.“

Auch als „Zentrum des Humors“gilt er in der Regierungs­zentrale des Landes Baden-Württember­g. Am letzten Abend im Hotel Ambassador in Ost-Jerusalem erhebt Werner Schempp sein Weinglas. Das Ende seiner letzten Dienstreis­e naht. Scherzend-tiefsinnig blickt er in die Runde, beschreibt für jede der vertretene­n Gruppen, was sie für ihn in den vergangene­n 30 Jahren bedeutet habe – die Abgeordnet­en, die Sicherheit­sbeamten, die Journalist­en, seine Kollegen von der Ministeria­lbürokrati­e, Kretschman­n. Im Wort Ministeria­lbeamter stecke das lateinisch­e Wort ministrare, sagt Schempp, der ehemalige Ministrant aus Oberschwab­en. „Das heißt 'dienen’. So hab ich meine Aufgabe immer verstanden.“

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FOTO: JANA HÖFFNER/STAATSMINI­STERIUM
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FOTO:ARCHIV Schempp (links) 2002 mit Ministerpr­äsident Erwin Teufel (zweiter von rechts).

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