Claus mit den Scherenhänden
Ein Friseur aus Biberach und seine Kollegen schneiden Obdachlosen kostenlos die Haare
BIBERACH - Eine Fernsehdokumentation über Obdachlose im vergangenen Herbst hat das Leben des Biberacher Friseurmeisters Claus Niedermaier nachhaltig verändert. Zusammen mit befreundeten Berufskollegen schneidet er mindestens einmal im Monat obdachlosen Menschen in ganz Deutschland kostenlos die Haare. „Ich will diesen Menschen ihre Würde und ihr Gesicht zurückgeben“, sagt er über seine Initiative, die Barber Angels Brotherhood (Bruderschaft der Friseur-Engel).
Auf dem Sofa im warmen Wohnzimmer hatte es sich Niedermaier im November 2016 mit einer Flasche Wein gemütlich gemacht, als er im Fernsehen in eine Reportage über Menschen in München hineinzappte, die die kalte Jahreszeit im Freien verbringen müssen. „Das Schicksal dieser Obdachlosen hat mich sehr bewegt und ich habe mich gefragt, wie ich denen helfen kann“, erzählt er. Die Antwort kam ihm über seinen Beruf. „Menschen werden meist zunächst auf ihr Äußeres reduziert. Weil die Obdachlosen damit nicht glänzen können, scheitert ein möglicher Weg zurück in ein normales Leben bereits an dieser Hürde. Deshalb war mein Gedanke: Ich bin Friseur, ich kann diesen Leuten mit meinem Handwerk ihr Gesicht von früher zurückgeben“, sagt Niedermaier.
Friseur bei den Filmfestspielen
Noch in derselben Nacht setzt er sich hin, schreibt ein Konzept. Friseure aus ganz Deutschland sollten sich zusammentun, um mit ihrem Handwerk kostenlos Gutes für diese Menschen am Rande der Gesellschaft zu tun. „Ob das funktioniert, wusste ich nicht“, erzählt Niedermaier. Mit Obdachlosen habe er davor nie zu tun gehabt. Die Welt des 55-jährigen Friseurmeisters hatte sich bisher eher dort abgespielt, wo die Scheinwerfer leuchteten. Die Biberacher kennen ihn als ihren „Figaro Claus“, der jedes Jahr bei den örtlichen Filmfestspielen Promis wie Senta Berger, Katharina Wackernagel oder Walter Sittler für die Gala frisiert.
Neun befreundete Kollegen aus ganz Deutschland trommelt Niedermaier eine Woche nach seiner Idee zusammen und erklärt ihnen sein Konzept. Alle sind begeistert. Zusammen gründen sie einen Club, dem sie den Namen Barber Angels Brotherhood geben. Die zehn Gründungsmitglieder bezeichnet Niedermaier als Apostel. „Wir wollen unsere Idee weiterverbreiten und möglichst viele Friseure finden, die sich ihr anschließen.“Als Outfit wählen sie Lederwesten, auf denen das Clublogo prangt. „Auch wenn es auf den ersten Blick so wirkt: Wir haben nichts mit Motorradclubs zu tun, wir wollen auffallen.“Jeder Friseur hat einen eigenen Clubnamen, der auf der Weste steht: Niedermaier heißt „Figaro“, andere „Barberlady“oder „Barberpapa“.
In einem Obdachlosenheim für Männer der Heilsarmee in München geht es Ende 2016 los. Per Plakat werden die Friseure zwei Wochen vorher angekündigt. Tatsächlich finden sich 25 Obdachlose ein, die sich die Haare schneiden lassen wollen. „Am Anfang waren sich beide Seiten etwas fremd, aber als sie gemerkt haben, dass wir ihnen etwas Gutes tun wollen, haben sie begonnen, von sich zu erzählen“, sagt Niedermaier. Geschnitten und frisiert wird mit einfachen Mitteln. „Wir bekommen Friseurprodukte dankenswerterweise auch von den Herstellern gestiftet, die unsere Idee gut finden.“Anreise und Übernachtungen bezahlen die Friseure aus eigener Tasche.
Ihr Lohn erwartet sie, wenn sie mit den Obdachlosen nach dem Haareschneiden vor den Spiegel treten. „Da fließen Tränen, da gibt es Umarmungen – diese Momente sind unbezahlbar“, sagt Niedermaier. Nach München folgen weitere Städte: Stuttgart, Lahr, Freiburg, Düsseldorf und Köln. Überall gibt es dieselben positiven Reaktionen, das Medieninteresse wächst und damit einhergehend auch die Zahl der Friseure, die sich der Bruderschaft als Mitglieder anschließen. „Wir sind in gut vier Monaten auf rund 70 Friseure deutschlandweit gewachsen“, sagt Niedermaier.
In Fünfer-Teams sind die Friseure an Wochenenden in den Städten unterwegs. Mittlerweile melden sich die Leiter von Obdachlosenheimen von sich aus bei ihnen, sagt Niedermaier, der weiterhin unter der Woche seinen Salon in Biberach mit zwölf Mitarbeitern (zwei davon gehören inzwischen selbst zu den Barber Angels) führt, dessen Freizeit inzwischen aber zu großen Teilen im Dienst der Barber Angels Brotherhood steht. Als belastend empfindet er das nicht, im Gegenteil: „Für solche Momente opfere ich die Zeit gerne. Man sieht viel und lernt neue Menschen kennen. Manchmal frage ich mich, warum mir das alles erst mit Mitte 50 eingefallen ist“, sagt Niedermaier. Diese Idee zum Erfolg zu bringen, sei sein großes Ziel bis zur Rente und in der Zeit danach.
Im Moment scheint alles zu funktionieren. Als die Friseure vergangenes Wochenende wieder in dem Männerheim in München waren, gab es einen riesigen Medienauflauf. Alle namhaften Fernsehsender und auch große Zeitungen berichteten über die „Engel mit den Scherenhänden“, wie die Friseure von einigen Journalisten betitelt werden. Die Folge: „Es gibt inzwischen auch Anfragen von Friseuren aus der Schweiz, Österreich, Norwegen und Irland, die gerne mitmachen wollen.“