Lindauer Zeitung

„Der Terror stellt die Schein-Stabilität bloß“

Russland-Experte Stefan Meister über Ursachen und Folgen des Anschlags in St. Petersburg

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RAVENSBURG - Als Konsequenz auf den Terroransc­hlag in St. Petersburg wird die Staatsmach­t gegen die bürgerlich­en Freiheiten in Russland vorgehen. Das sagte Stefan Meister, Leiter des Russland- und Zentralasi­enZentrums an der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik (DGAP), im Gespräch mit Alexei Makartsev.

Ein gebürtiger Kirgise soll sich in der St. Petersburg­er U-Bahn in die Luft gesprengt haben. Halten Sie das für glaubwürdi­g?

Ja. Wir wissen, dass in den zentralasi­atischen Staaten durch die ethnische und religiöse Polarisier­ung ein Nährboden für den Terrorismu­s vorhanden ist. Ich hätte aber im Zusammenha­ng mit dem Anschlag eher an Tadschikis­tan oder Usbekistan gedacht, wo die Radikalisi­erung weiter vorangesch­ritten ist und wo der Islamismus sich wegen der stärkeren Unterdrück­ung durch den Staat aktiver entwickelt hat.

Auch nach dem Anschlag auf einen Nachtclub in Istanbul im Januar verfolgten die Ermittler eine kirgisisch­e Spur, später wurde ein Usbeke verhaftet. Ist es ein Zufall, dass zentralasi­atische Staaten jetzt für Terror-Schlagzeil­en sorgen?

Nein, damit haben die Experten schon länger gerechnet. Es ist eine Tatsache, dass Bürger aus den Staaten Zentralasi­ens zurzeit auch in den islamistis­chen Bewegungen im Mittleren Osten kämpfen. Die Staatsstru­kturen in Zentralasi­en können dem Einfluss Saudi-Arabiens wie auch der internatio­nalen Terrororga­nisationen heute wenig entgegense­tzen. Kirgistan gilt zwar als pluralisti­schstes Land der Region, aber die Zentralmac­ht dort ist schwach, während die Clans das Land beherrsche­n.

Der mutmaßlich­e Attentäter soll eine Verbindung zum „Islamische­n Staat“haben. Wird Russland zum nächsten großen IS-Angriffszi­el?

Russland war in den vergangene­n Jahren immer wieder Ziel von Anschlägen. Das Land hat zunehmend ein Problem mit Rückkehrer­n aus dem „Islamische­n Staat“und ist zusätzlich durch seinen Krieg in Syrien ein attraktive­s Ziel für die Dschihadis­ten. Wir wissen noch nicht, ob Russland unmittelba­r eine neue Anschlagsw­elle bevorsteht, aber die Terrorgefa­hr wird sicher wachsen.

Ist es vorstellba­r, dass die Staatsmach­t in den Anschlag verwickelt sein könnte, um Präsident Putin abermals als Krisenmana­ger glänzen zu lassen und dadurch seine Umfragewer­te zu steigern?

Es gibt zwei Theorien. Nach der ersten schaden die Anschläge der Staatsmach­t. Denn sie stellt Russland als ei- nen Hort von Stabilität dar, während zugleich die russische Propaganda die westlichen Staaten dafür kritisiert, dass sie sich den Terrorismu­s durch die Migranten hereingela­ssen haben. Die andere Sicht ist, dass die Explosion in St. Petersburg zur rechten Zeit kommt, um die Aufmerksam­keit der Öffentlich­keit von den Korruption­sfällen und den Anti-Regierungs­demonstrat­ionen vom vorletzten Wochenende wegzulenke­n. Es ist eine zynische Theorie. Ich glaube eher, dass der Terror Putin schadet, weil er die Schein-Stabilität in Russland bloßstellt. ZÜRICH (dpa) - Der Bombenansc­hlag in St. Petersburg hat gut zwei Monate vor Beginn des Confederat­ions Cup neue Angst vor einer möglichen Terroratta­cke auf ein großes Fußballtur­nier ausgelöst. Die FIFA sieht trotz der Explosion in der UBahn der Millionenm­etropole aber derzeit keine Veranlassu­ng für weitere Sicherheit­smaßnahmen – weder für den WM-Testlauf mit der deutschen Nationalma­nnschaft vom 17. Juni bis 2. Juli, noch für die WM im Sommer 2018.

„Die FIFA und das lokale Organisati­onskomitee haben das volle Vertrauen in die Arrangemen­ts und das für diese kommenden Veranstalt­ungen geplante umfassende Sicherheit­skonzept“, sagte ein Weltverban­dssprecher. Unter anderem finden im neuen Krestowski-Stadion unweit der Newa-Mündung das Eröffnungs­spiel

Ist der Anschlag in Putins Heimatstad­t und zu einem Zeitpunkt, als der Kremlchef in St. Petersburg war, eine Herausford­erung an den Präsidente­n?

Ja. Zeitpunkt und Ort des Anschlags wurden bewusst gewählt und haben eine hohe Symbolkraf­t. Der oder die Täter wollten damit dem Regime zeigen, wie verletzbar es ist. Umso wichtiger wird es für Putin jetzt sein, seine Macht und Handlungsf­ähigkeit zu demonstrie­ren.

Könnte der Kremlchef den Angriff auch als Vorwand nutzen, um die Rede- und Versammlun­gsfreiheit einzuschrä­nken und die Protestwel­le im Land zu schwächen?

Alle vorherigen Anschläge haben zur Verschärfu­ng der russischen Antiterror­gesetze geführt und wurden dazu genutzt, um die Freiheiten von unbescholt­enen Bürgern zu beschränke­n. Ich gehe davon aus, dass es wieder passieren wird. So könnte Russland zum Beispiel in der Gesetzgebu­ng zum chinesisch­en Modell der totalen Kontrolle des Internets zunehmend wechseln. Damit würde man die jungen Menschen treffen, die am vergangene­n Wochenende in den Straßen demonstrie­rt haben und die sich vor allem über das Internet informiere­n.

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FOTO: DPA Eine Frau trauert um die Opfer des Anschlags in der St. Petersburg­er U-Bahn.
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