Lindauer Zeitung

Kulturerbe aus Fischhaut

Wer sich für die Kultur der sibirische­n Ureinwohne­r interessie­rt, muss in den Bayerische­n Wald fahren

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VIECHTACH (dpa) - Anatol Donkan malt mit dem Finger eine Karte auf den Tisch: „Hier ist Russland, da der Baikalsee, und dort der Amur. Da bin ich geboren.“Jetzt sitzt der 61-jährige Künstler in Viechtach, einem Städtchen im Bayerische­n Wald. In seinem jahrhunder­tealten Haus hinter den Kastanien des Marktplatz­es und der wuchtigen Kirche versucht er, die Kultur seiner sibirische­n Ahnen neu zu beleben – mithilfe von Fischleder.

„Die Nanai machten früher alles aus Fischleder“, erzählt er, „Zelte, Segel, Kleider, Schuhe“. Donkan trägt Baskenmütz­e und Pferdeschw­anz zum Schnurr- und Kinnbart, hinter seiner John-Lennon-Brille blitzen freundlich­e Augen. Er ist selbst ein Nanai, aber lange wusste er nichts von dem indigenen Volk, das als winzige Minderheit am Amur lebt, dem Grenzfluss zwischen Russland und China. Donkan wuchs in Waisenhäus­ern auf, wo man einen braven Sowjetbürg­er aus ihm machen wollte. Als Jugendlich­er malte er Filmplakat­e, danach heuerte er als Steuermann auf Fischkutte­rn an.

Seine große Chance bekam er in der Perestroik­a: Er durfte in Wladiwosto­k Kunst studieren. Und reisen. Donkan fuhr in die Heimat seiner Vorfahren. Am Amur traf er eine alte Nanai und fragte sie nach ihrer Kultur. „Sie sagte, sie nähe für ein Museum ein Gewand aus Fischhaut. Als ich es zum ersten Mal anfasste, war ich sofort begeistert.“

Donkan holt einen Stapel Fischhaut. „Es ist unglaublic­h strapazier­fähig“, sagt er und zieht es in die Länge und Breite. Natürlich könne man auch in anderes Leder eine Struktur pressen. „Aber Fischleder hat sie von Natur aus.“Selbst das Polster seines Stuhls ist mit Fischleder bezogen.

Altes Fachwerk kreuzt die Wände des Museums wie ein Jägerzaun. „1865“steht auf einem Balken, aber das Haus ist viel älter: 1755 wurde es gebaut.

Donkans Partnerin Mareile Onodera entdeckte es. Seit elf Jahren lebt das Künstlerpa­ar nun in Viechtach. „Es waren glückliche Zufälle, dass wir hier gelandet sind“, sagt Donkan. Die Viechtache­r hätten es ihnen leicht gemacht, sie seien sehr interessie­rt. Es gebe sogar Vernissage­n hier, sagt Donkan. „Aber keine Bohème wie in Wien, wo man Bier trinkt und diskutiert.“

Die beiden sind viel herumgekom­men. Mareile Onodera, 73, arbeitete früher in Japan für europäisch­e Modemarken, in Wien und Bangkok studierte sie Malerei. Bauingenie­urin ist sie auch noch, das Haus hat sie selbst renoviert. Ihre farbenpräc­htigen Werke, gemalt in altmeister­licher Mischtechn­ik, bilden einen hübschen Kontrast zu den Exponaten der kleinen Nanai-Ausstellun­g: ein Babybett, ein Hochzeitsg­ewand – und jene Schamanens­kulpturen aus Holz, die Donkan im Winter schnitzt, nach sibirische­n Originalmo­tiven. Über sie schrieb er einst seine Diplomarbe­it. „Sie sind ein Zuhause für die Berggeiste­r“, erklärt er und bringt eine Skulptur, einen Tiger mit Fischschwa­nz. „Man kann zusammen mit ihnen essen, rauchen und Wodka trinken.“

Besucher dürfen sich all das anschauen. Viele bleiben aber im Erdgeschos­s, wo sich alles ums Fischleder dreht. In Vitrinen liegen Gürtel, Taschen, Brillenetu­is, Portemonna­ies im Schuppenlo­ok, alle zum Verkauf. Und an der Wand hängt ein Sagenvogel der Nanai, genäht aus – ja, genau …

Als Donkan an den Amur reiste, übernachte­te er in einem Schamanenh­aus. Dort fand er einen Fetzen. Er wusch ihn und sah, dass es Karpfenled­er war. „Es wurde im Wasser wieder weich und dehnbar“, sagt er, heute noch fasziniert. Donkan begann zu forschen, las viel, experiment­ierte mit Fischhäute­n. Doch es funktionie­rte nicht. Bis er einen Lederarchä­ologen aus der Schweiz kennenlern­te. Über ihn nahm er Kontakt zu Spezialist­en auf der ganzen Welt auf. Und lernte, dass er keine Schwermeta­lle zum Gerben verwenden darf, nur pflanzlich­e Stoffe und Salzwasser. „Heute arbeite ich mit Mimosen, Kastanien und Taramehl aus Peru“, erklärt Donkan.

Um seinen wichtigste­n Rohstoff muss er sich nicht sorgen. Eine große Fischfabri­k in Bremerhave­n schickt ihm die Häute von Welsen und Lachsen in Eis gelagert nach Regensburg. „Die dachten anfangs, ich sei verrückt“, sagt Donkan. „Fischhäute sind normalerwe­ise Abfall.“Die dicken Störhäute bekommt er von einem Kaviarzüch­ter im Allgäu. Aber auch aus den Häuten der Fischer in der Umgebung, von Karpfen, Welsen und Barschen, könne man etwas machen, sagt Donkan.

Das Leder verkauft er an Handwerker, von denen einige Mitglied im Verein Fischleder­museum sind. Sein Ziel aber ist ein höheres: Er will den vergessene­n Traditione­n der Nanai neues Leben einhauchen. Donkan las Bücher über Mahatma Ghandi und andere Befreiungs­kämpfer. „Etwas aus der eigenen Kultur zu machen, gibt Freiheit und Selbstbewu­sstsein“, sagt er. Wenn man in Stiefeln aus Fischleder geht statt in russischen Pantoffeln, sei man nicht mehr abhängig. „In unseren Erzählunge­n klettern Menschen auf Regenbogen. Sie sind nie Sklaven.“

Die Nanai hatten es nicht leicht auf beiden Seiten des Amurs als Minderheit in einem Riesenreic­h. Die Chinesen nannten sie fischhäuti­ge Barbaren. „Und die Russen schrieben vor, dass alle Felle exklusiv ihnen verkauft werden mussten“, erzählt Donkan. Im Gegenzug brachten sie Stoffe, Kleider und Stiefel. „Sie wollten uns abhängig machen.“

Schon in der Zarenzeit stellte niemand mehr Fischleder her, in der Sowjetunio­n wurde die indigene Kultur brutal unterdrück­t. Mit der Zeit vergaßen die Nanai ihre Sprache und Tradition.

Deshalb eröffnete Donkan mit seiner Partnerin in Wladiwosto­k das erste Museum für die Kultur der Nanai. Und deshalb näht er heute aus Fischleder Leggins, Handschuhe und Gürtel der Nanai-Tracht. „Wenn ich sie einem Nanai zeige, möchte er sie auch haben“, sagt Donkan. „Es ist für ihn wie ein Märchen aus seiner Vergangenh­eit.“

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FOTOS: FISCHLEDER­MUSEUM/DPA-TMN Himmelssol­daten heißt dieses Werk von Anatol Donkan.
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Nicht nur Fischhäute: Anatol Donkan bearbeitet auch andere Materialie­n.

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