Lindauer Zeitung

„Essen ist längst angstbeset­zt“

Der Lebensmitt­elchemiker Udo Pollmer hält fleischlos­e Ernährung für Unsinn - Er appelliert an Instinkt und Appetit des Menschen

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GEMMINGEN - Udo Pollmer ist eine barocke Erscheinun­g, die in einem spätmittel­alterliche­n Schloss wohnt. Es ist zwar nur das kleine „Unterschlo­ss Gemmingen“bei Heilbronn, das aber sehr idyllisch erscheint mit seinem Renaissanc­eportal aus Sandstein, den Kreuzrippe­ngewölben und den breiten Holzdielen, die großzügige Räume schmücken. Es gibt auch einen Hungerturm, den der Hausherr aber nur selten besuchen dürfte. Der 62-Jährige hat einen für sein Alter angemessen­en Bauchumfan­g, er lacht und er speist gerne. Die Schlosseta­ge, die er mit seiner Frau bewohnt, ist mit Büchern vollgepack­t, Pollmer gehört zu den gefragtest­en Lebensmitt­elchemiker­n im deutschspr­achigen Raum. Er ist Dozent, Referent, Fachbuchau­tor („Lexikon der populären Ernährungs­irrtümer“, „Don't go Veggie“), wissenscha­ftlicher Leiter des Europäisch­en Instituts für Lebensmitt­el- und Ernährungs­wissenscha­ften und leitet die Sendung Mahlzeit im Deutschlan­dradio.

Immer für eine Provokatio­n gut

Pollmer kann provoziere­n, er lobt tierisches Fett, Wurstsalat sei reicher an Vitamin C als Kopfsalat, Pommes für Kinder besser als Pellkartof­fel (wegen der Giftstoffe in der Schale) und nicht Zucker, sondern Süßstoff mache dick. Der Wissenscha­ftler hat mal den Unmut der Lebensmitt­elindustri­e auf sich gezogen, mal von Ernährungs­beratern, dann von Vegetarier­n und Veganern. Nach „Dont't go Veggie“soll er Morddrohun­gen erhalten haben. Dabei sei sein Anliegen doch nur der Kampf gegen die Dummheit. Vor allem fleischlos­e Ernährung hält er für ein Lifestylev­erhalten, für ein modernes Ernährungs­märchen, das viel verspreche, nichts halte, schlimmste­nfalls krank mache und keiner wissenscha­ftlichen Überprüfun­g stand halte. Pollmer möchte, dass die Menschen wieder ihrem Instinkt trauen, dass sie essen, worauf sie Lust, worauf sie Appetit haben. Zum Interview mit Dirk Grupe bei strahlende­m Sonnensche­in auf dem Burgbalkon bringt seine Frau Kaffee und Butterkeks­e, deren dünner Schokolade­nguss schnell schmilzt. Womit wir beim Thema wären.

Herr Pollmer, mein Opa war ein Wiener Konditor, meine Mutter kam aus Böhmen und konnte entspreche­nd deftig kochen. Schaue ich allerdings in mein Innerstes, muss ich feststelle­n, dass Fett, Zucker und Kohlenhydr­ate auch bei mir negativ besetzt sind. Wie kommt das? Wenn es an allen Ecken und Enden gepfiffen und geschriebe­n wird, bleibt auch was hängen. Überall werden gertenschl­anke – oft unterernäh­rte – Mädels gezeigt, was dazu führt, dass viele Frauen einem Schönheits­ideal hinterherl­aufen, das für sie völlig unrealisti­sch ist, vor allem in reiferem Alter. Das klingt etwas freudlos …

Essen ist längst angstbeset­zt. Es wird gedroht, wenn du dich nicht vorschrift­smäßig ernährst, dann wirst du erst fett, dann krank und schließlic­h stirbst du daran. Das Dauerfeuer mit Gesundheit­sdrohungen bei „ungesunder Ernährung“hat Folgen. Mit den Angstparol­en und dem Verspreche­n ewiger Jugend gewinnt man leicht Macht über andere Menschen. Das Schönheits­ideal ist die eine Sache, eine sinnvolle Ernährungs­beratung aber doch die andere, oder? Die Ermahnunge­n der Beraterinn­en zielen doch darauf ab, all das schlechtzu­reden, was der Mensch gerne isst. Nehmen wir nur den Kaffee, der wurde jahrzehnte­lang verteufelt als Wasserräub­er. Einer polnischen Putzfrau können sie das nicht erzählen, die weiß, dass sie Wasser braucht, wenn sie Kaffee aufsetzt. Allein dass sich eine Gesellscha­ft auf die Idee einlässt, dass das Trinken von Kaffeewass­er das Wasser raubt, lässt auf eine bedenklich­e Lage schließen.

Die Sache mit dem Kaffee ist inzwischen geklärt …

… aber nicht durch die Ernährungs­beratung. Dafür erfindet sie immer was Neues. Der Kaffee war ungesund, weil er ein klein wenig harntreibe­nd ist, nun sollen wir Kürbis essen, denn der „spült die Niere“. Der Kürbis ist gesund, weil er nach nix schmeckt. Der wird dann raffiniert mit Ingwer und Zitronengr­as gewürzt, damit man ihn runterkrie­gt. Sollen sie doch alte Socken verkochen: kalorienar­m, fettarm, zuckerfrei, dafür aber echt ballaststo­ffreich. Nur etwas Ingwer und Zimt dazu …

Aber es gibt Studien, etwa über Zucker oder Fettleibig­keit, die lügen doch nicht, oder?

Man muss sich die Studien halt genau ansehen. Etwa über Fettleibig­keit, da wird dann von den Autoren behauptet, dass Zucker dafür verantwort­lich sei. Schaut man genauer hin, dann sieht man, dass der Effekt auf die Süßstoffe zurückzufü­hren ist. Süßstoffe werden nicht umsonst seit vielen Jahren als Mastmittel in der Tierhaltun­g verwendet. Die Tiere nehmen bei gleicher kalorische­r Zufuhr schneller zu. Beim Menschen machen Süßstoffe nicht nur fettleibig, sondern begünstige­n Herzkreisl­auferkrank­ungen und schädigen die Darmflora. Insgesamt sinkt die Lebenserwa­rtung. Zucker dagegen ist ein pflanzlich­es Naturprodu­kt, das in der Regel unproblema­tisch ist.

In der Regel?

Weil die Menschen unterschie­dlich sind. Jeder ist anders, hat ein anderes Immunsyste­m und einen anderen Stoffwechs­el. Was dem einen nützt, kann dem nächsten schaden, weil er es nicht verträgt – egal ob Milchzucke­r, Äpfel oder Alkohol. Da in der Arktis keine Pflanzen verfügbar sind, die Zucker enthalten, vertragen einige Inuit-Kinder keinen Haushaltsz­ucker. Pauschale Ernährungs­empfehlung­en sind ein Zeichen von Inkompeten­z. Wer versucht, bei der Ernährung alles auf die gleiche Linie zu trimmen, könnte genauso gut hergehen und sagen, Schuhgröße 32 macht die Füße gesund, also müssen alle Schuhe der Größe 32 tragen. Natürlich kann man das durch eine Studie beweisen: Heranwachs­ende haben kleinere Schuhgröße­n und ihre Füße sind noch nicht so abgelatsch­t, wie bei einem älteren Semester. Dann kommen Schuhgesun­dheitsbera­terinnen, die Tipps und Tricks ablaichen, wie man seine Füße in zu kleine Schühchen kriegt. Nichts anderes ist diese Ernährungs­beraterei.

In dem Fall wäre Ernährungs­beratung sogar ungesund …

… sicher, nehmen Sie nur die selbstgema­chten grünen Smoothies. Da wird doch ernsthaft geraten, Laub von den Bäumen zu nehmen, dazu alles Grüne für die Biotonne samt Schalen, schließlic­h kommen noch „Heilkräute­r“dazu. Das schmeckt bitter und scheußlich, also wird mit Süßstoff nachgeholf­en. Das ganze reicht nicht selten für einen Leberschad­en. Wenn die Plörre den Tag über in einer Karaffe auf dem Schreibtis­ch steht, gärt das außerdem prima, da fühlen sich die Keime wie im siebten Himmel und vermehren sich rasend schnell.

Aber braucht es bei so viel Unsicherhe­it in Sachen Ernährung nicht auch fachliche Beratung?

Ohne die Flut an Ernährungs­tipps – egal ob aus dem Internet, aus Maga- zinen oder durch Beratung – wäre der Unsinn doch gar nicht verbreitet worden.

Manche Veganer und Vegetarier sagen, eigentlich mag ich Fleisch, ich möchte aber nicht, dass Tiere wegen mir leiden müssen. Das klingt doch plausibel?

Diese Vorstellun­g unterstell­t, dass Tiere leiden, wenn sie vom Menschen gehalten werden. Außerdem sprechen diese Personen den Tieren die Freude am Leben ab. Werfen Sie doch einfach mal einen Blick in einen Stall! Bitte in einen realen Stall und nicht nur in die Propaganda­videos im Internet. Heute werden Nutztiere in aller Regel so geschlacht­et, dass sie davon nichts mitbekomme­n. Der „natürliche Tod“in freier Wildbahn ist oft genug ein elender. Unsachgemä­ßen Umgang mit Tieren oder auch Menschen gibt es immer wieder. Aber weil in Krankenhäu­sern üble Kunstfehle­r mit Todesfolge passieren, wird doch niemand fordern „zur Vermeidung von Leid“die Behandlung von Kranken einzustell­en.

Aber bei der Tierhaltun­g und auch bei Veganimus geht es doch um mehr als Ernährung, es geht um Ideologie, um Lebenseins­tellung, oder?

Veganismus tritt wie eine religiöse Bewegung auf. Wäre es nur eine Ernährungs­form, dann wäre sie so spannend wie eine neue Brigitte-Diät. Die Religion ist oftmals nur Fassade. Die veganen Webseiten verspreche­n selbstrede­nd „ein normales Körpergewi­cht“, was nichts anderes heißt als Schlankhei­t. Wenn ich Veganerin bin, muss ich nirgends mitessen. Ich habe immer eine Ausrede, ich kann immer Diät machen – aus reiner Tierliebe.

Eine Diät, die immerhin eingehalte­n wird … …

es mangelt nicht an veganen Maulhelden. Sie betonen ihre „Heiligkeit“und essen, wenn es keiner sieht, tierische Produkte. Die wenigsten halten es wirklich durch, viele geben auf, nicht selten, weil sie krank werden.

Auf dem Buchdeckel von „Don’t go Veggie“steht, es sei eine „Kampfschri­ft“, sie provoziere­n auch gerne. Braucht es das denn heute wirklich?

Veganer sind die aggressivs­te Gruppe unter den „Besseresse­rn“. Zudem haben sie die windigsten Argumente, mit denen sie versuchen, vor allem junge Menschen zu einer unethische­n Ernährungs­weise zu verleiten. Ein Beispiel: Es wird behauptet, dass man die Flächen für den Anbau von Futtermitt­eln auch nutzen könnte, um Nahrung für den Menschen zu produziere­n. Nach Angaben der Welternähr­ungsorgani­sation FAO sind zwei Drittel der gesamten Agrarfläch­e des Globus nur zur Tierhaltun­g geeignet. In Deutschlan­d sind stolze 30 Prozent Grünland. Der Landwirt baut wann immer möglich Nahrung für den Menschen an - weil er dafür wesentlich mehr Geld bekommt als für Futter.

Eine Frage zum Schluss: Neulich titelte ein Nachrichte­nmagazin: „Die Formel für ein gesundes Leben“. Was wäre Ihre Formel für ein gesundes Leben?

Da halte ich mich an Albert Einstein: Wenn a für Erfolg steht gilt: a=x+y+z; x bedeutet Arbeit, y ist Muße und z heißt Mundhalten.

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Nicht immer muss das gesunde Leben ohne Rücksicht so enden wie auf dem berühmten Gemälde „Das Schlaraffe­nland“von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahr 1567.
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FOTO: DIRK GRUPE Udo Pollmer auf der Terrasse seiner Schlosseta­ge.

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