Handle im Internet so, wie auch Du behandelt werden willst
Bernhard Pörksen spricht über die Macht des Internets und die Notwendigkeit ihrer Zivilisierung
LINDAU (seg) - Sie schüren Angst und Ressentiments, setzen aber auch Zeichen der Hoffnung – die sozialen Netzwerke sind zu einer wichtigen Macht in unserer Gesellschaft geworden. Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler aus Tübingen, hat sie am Mittwochmorgen in seinem Vortrag im Rahmen der Psychotherapietage unter die Lupe genommen.
Martha Payne, neun Jahre alt und aus Schottland, wurde berühmt, als sie 2012 begann, das Essen in der Schulmensa zu fotografieren, zu kommentieren und ins Internet zu stellen. Ihre Kriterien: Sieht das Essen gesund aus? Wie viele Bissen sind nötig, um es zu verspeisen? Wie viele Haare befinden sich in dem Essen, die nicht meine eigenen sind?
Auf dem ersten Foto, das sie aufnahm, ist eine einsame Krokette zu sehen und undefinierbar verkochtes Gemüse. Ihr Kommentar: Ich bin ein Kind, das wächst. Das Schulessen trägt nicht dazu bei. Ihr Blog wurde gelesen, schon rasch bekam sie Unterstützung in den sozialen Medien. Es gab Proteste: Wie könnt Ihr es wagen, unsere Kinder so abzuspeisen?
Als die Schuldirektorin Martha Payne bat, mit ihrer Berichterstattung aufzuhören und sie sich von ihrer Fan-Gemeinde verabschiedete, hatte ihr Blog innerhalb von 24 Stunden eine Million Klicks.
Ein harmloses Beispiel, so Pörksen, das die zwei Grundgesetze des digitalen Zeitalters zeigt: Es gibt eine neuartige Assymetrie von Ursache und Wirkung, ein winziger Anstoß kann einen medialen Tsunami auslösen. Und es ist unmöglich, diesen Vorgang zu zensieren oder zu kontrollieren.
Wenn es einem neunjährigen Mädchen gelingt, ein Thema auf die globale Agenda zu setzen, dann hat sich etwas grundlegend verändert. Zwei Botschaften leitet Pörksen aus diesem Vorgang ab: Wir können uns erstens die Folgen unserer kommunikativen Aktionen im Internet nicht vorstellen, wir sind „möglichkeitsblind“, und wir sind zweitens konfrontiert mit einer neuen Logik der Skandalisierung.
Vor dem digitalen Zeitalter habe sich das Publikum am Ende des Kommunikationsprozesses befunden, nun kann es sofort reagieren und Themen setzen, die auch von den klassischen Medien nicht ignoriert werden können. Barrierefreie Interaktion, unvorstellbare Vernetzungsmöglichkeiten - die digitalen Medien ermöglichen, so Pörksen, eine radikale Demokratisierung der Enthüllungs- und Empörungspraxis.
Fakeinformationen können Existenzen zerstören
Das bringe Veränderungen mit sich. Erstens: Neue Enthüller tauchen auf und erregen öffentliche Aufmerksamkeit. Zweitens: Die Definition relevanter Information verändert sich. Eine persönliche Geschichte kann ebenso in den Fokus der digitalen Aufmerksamkeit rücken, so Pörksen, wie eine „hingerotzte Banalität“oder ein Hasskommentar. Drittens: Es gibt Opfer. Jeder ist in Gefahr, Gegenstand eines weltweiten Aufmerksamkeitsexzesses zu werden. Viertens: Die neuen Verbreitungsdynamiken funktionieren nach dem Muster einer Epidemie. Wenn die verbreitete Info ein Fake ist, kann sie Existenzen zerstören. Fünftens: Die digitalen Medien sind wichtige Werkzeuge der Meinungsäußerung und des Protests.
Das Netz bedeutet eine neue Dimension von Sichtbarkeit. Pörksen sprach von „Überbelichtung“und „Totalausleuchtung“. Wer postet was über Flüchtlinge? Meinungen werden sichtbar, Unterschiede auch. Man kann darauf reagieren. Diese Sichtbarkeit, so Pörksen, erzeugt Erregung und Gereiztheit.
Tatsache ist: Wir haben es mit einer neuen medialen Macht zu tun. Früher entschieden die Journalisten darüber, was publiziert wird und was nicht, diese Macht ist nun gebrochen. Neben die Medien als vierte Gewalt schiebt sich die fünfte Gewalt der vernetzten Vielen. Bei terroristischen Anschlägen greifen Medien längst auf Handyaufnahmen von Privatpersonen zurück, die zufällig am Ort des Geschehens waren. Es gibt den Shitstorm, das Mobbing, aber auch berührende Hilfsaktionen, die auf viel Resonanz stoßen.
Wie lässt sich diese fünfte Gewalt zivilisieren? Pörksen sieht im Umgang mit den sozialen Medien einen „gigantischen gesellschaftspolitischen Bildungsauftrag“. Das Wertegerüst des Journalismus, so Pörksen, kann die konkrete und pragmatische Ethik liefern, die wir heute brauchen. Dazu gehört auch die Reflexion darüber, wie man sich in den Netzwerken äußert. Wie kann man vermeiden, dass man seinen Vorurteilen auf den Leim gehe?
Pörksen empfiehlt eine Besinnung auf Kants kategorischen Imperativ: Handle im Internet stets so, wie auch Du behandelt werden willst. Er hofft, dass sich die digitale Gemeinschaft in eine reaktionelle verwandelt, und dass sie einen Zivilisierungsprozess durchmacht, der dringend nötig ist.