Andersartigkeit bei Flüchtlingen zulassen
Joachim Bauer: Ausgrenzung eine Ursache für Radikalisierung junger Menschen
LINDAU (seg) - „Aggression oder Kooperation, wofür sind wir gemacht?“So lautet die Frage, die Joachim Bauer in den Mittelpunkt seiner Vorlesungen im Rahmen der Psychotherapietage gestellt hat. Bauer ist Mediziner und Psychiater, er arbeitet an der Uniklinik in Freiburg. Hirnforscher haben festgestellt, so Bauer, dass soziale Ausgrenzung dieselben Gehirnareale reizt wie körperlicher Schmerz. Und zwar nicht nur, wenn wir selbst ausgegrenzt werden, sondern auch, wenn Menschen ausgegrenzt werden, die uns nahe stehen.
Das hat weitreichende Folgen, so Bauer: „Unsere globalisierte Welt ist keine Spielwiese, wir sind miteinander verbunden. Das hat Wirkungen, die uns alle betreffen können.“Ausgrenzung erzeugt Schmerz, Schmerz begünstigt Aggression. Aggression kann zu Radikalisierung führen und zu terroristischen Akten. Untersuchungen haben gezeigt, dass gute zwischenmenschliche Beziehungen den Schmerz akuter Ausgrenzungserfahrung abfedern.
Individualistisch geprägte Kultur ist Flüchtlingen fremd
Das gilt es bei der Diskussion um Integration zu berücksichtigen. Die Flüchtlinge kommen aus einer anderen Kultur. „Unsere Kultur ist individualistisch orientiert“, so Bauer, „wir wählen unsere Bezugsgruppen selbst, im Vordergrund steht die Befriedigung individueller Bedürfnisse, Autonomie, und ein selbstbewusstes Streben nach persönlichem Erfolg.“Demgegenüber spiele in der arabischen Kultur der soziale Zusammenhalt eine wichtige Rolle, die Zugehörigkeit zu einer Familie, einem Volk und einer Religion. Religion werde als sinnstiftend erfahren, ethnische und religiöse Traditionen seien eine Einheit, Arabischsein und Islam eng miteinander verbunden.
Flüchtlinge, die aus dem arabischen Kulturkreis kommen, werden bei uns mit anderen Werten konfrontiert. Umso wichtiger ist der Rückhalt in der Moschee für das Gefühl sozialer Integration und für das Identitätserleben in der Gemeinschaft. Der Imam ist Seelsorger und Ratgeber. „Das bedeutet nicht, dass er zu Gewalt aufrufen darf“, machte Bauer klar, „die muslimischen Zentren müssen geheimdienstlich kontrolliert werden zum Schutz unserer eigenen Gesellschaft.“
Kultureller Stress führt zu Angst und Depression
Aber wir sollten den zu uns Gekommenen erlauben, auf ihre Weise bei uns Fuß zu fassen. Das Leben in Deutschland bedeutet für viele arabische Muslime kultureller Stress – die Folgen sind Depression, Angst, innerfamiliäre Spannungen. Ungewohnt sei auch die andere Kommunikationsform. Während bei uns eine Aussage kurz und knapp sein sollte, lebt die Glaubhaftigkeit für arabische Menschen von der Ausführlichkeit, von Wiederholungen, Übertreibungen, Beteuerungen. Einfache nüchterne Feststellungen sind für arabische Menschen Zeichen für Unglaubwürdigkeit. Es ist unhöflich, sofort zur Sache zu kommen.
Die Befragung von jungen Muslimen ergab, dass folgende Punkte als problematisch erlebt werden: Wenn man sich weder in der eigenen noch in der fremden Kultur zu Hause fühlt, Diskriminierung im Alltag erlebt und den Verlust von Sinn. „Wenn Menschen nicht mehr wissen, welche Bedeutung sie und ihr Leben haben, wird es kritisch“, sagte Bauer und zitierte Gadamer mit dem Satz: „Der Mensch ist ein sinnsuchendes Tier.“
Überfordert durch die Komplexität des Lebens
Auch bei der Radikalisierung junger Europäer, die sich dem IS anschließen, spielt Ausgrenzung eine Rolle. Die Befragten fühlen sich überfordert durch die Komplexität des hiesigen Lebens, sie haben Nachteile erlebt bei der Bildung, bei der Wohnsituation und auf dem Arbeitsmarkt. Islamkenntnisse sind nur oberflächlich vorhanden, erschöpfen sich in leeren Slogans, die aus dem Internet kommen. Der Islam sei nur das „Dressing“für die Radikalisierung. From Zero to Hero: Sie wollen Helden werden und damit den eigenen Minderwertigkeitskomplexen entkommen. Bauer: „Die extremistische Ideologie ist nicht der Schlüssel ihrer Taten.“
Wie ist die Integration von Geflüchteten möglich? Muslime sollten nicht gezwungen werden, so Bauer, sich für eine der beiden Kulturen zu entscheiden. Es sei wichtig, die muslimischen Gewohnheiten und sozialen Kontexte nicht zu kritisieren und abzuwerten, sie geben Halt. Und wie kann Integration gelingen? Indem Ähnlichkeiten entdeckt werden, durch Empathie und Verständnis, gemeinsames Lernen, Arbeiten und Feiern. Es gelte, Fremdheitsgefühle anzuerkennen, Andersartigkeit bestehen zu lassen und nicht auf die Schnelle beseitigen zu wollen.
„Das ist eine große Aufgabe, die uns die nächsten zehn Jahre beschäftigen wird. Aber ich bin überzeugt davon, dass wir das schaffen können“, sagt Joachim Bauer zum Abschluss seines Vortrages optimistisch.