Die Angst vor Erdogans Alleinherrschaft
ut zwei Wochen nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei beklagen Regierungskritiker eine gefährliche Zunahme von Repression und außenpolitischen Risiken. Die Angst der Regierungskritiker, dass die bei dem umstrittenen Referendum am 16. April beschlossene Umstellung auf ein Präsidialsystem zu einer Alleinherrschaft von Staatschef Recep Tayyip Erdogan führen wird, wächst.
Die Behörden ließen den Zugang zum Online-Lexikon Wikipedia sperren und schnitten die Türken damit von einer der weltweit beliebtesten Internetseiten ab. Ein Gericht in Ankara begründete das Verbot mit Einträgen, in denen von türkischer Unterstützung für Dschihadisten in Syrien die Rede sei. Das türkische Kommunikationsministerium warf Wikipedia vor, sich an einer „Schmierkampagne“gegen die Türkei beteiligt zu haben.
Der Druck auf die Medien wächst weiter – und erfasst nun sogar schon Heiratssendungen im Fernsehen. Per Erlass wurden Kuppel-Shows verboten. Die Fernsehaufsicht erlegte zwei Sendern zudem ein Bußgeld auf, weil die Modeschau der Dessous-Marke Victoria’s Secret als „Teil der türkischen Tradition“bezeichnet worden sei. Damit schadeten die Sender der moralischen Entwicklung von Kindern. Die Kolumnistin Nuray Mert schrieb in der „Hürriyet Daily News“, die Repression sei so stark geworden, dass sie sich das demokratisch mangelhafte Regierungssystem der Vergangenheit zurückwünsche.
Dazu passt, dass die Behörden bei den Mai-Kundgebungen am Montag rigoros gegen Dissens vorgingen. Laut Medienberichten wurden bei Zusammenstößen in Istanbul mehr als 150 Menschen festgenommen. Die Oppositionspartei CHP kritisierte, die Regierung hebe mithilfe des Ausnahmezustandes, der seit dem Putschversuch vom Juli in Kraft ist, die Grundrechte der Bürger auf.
Ein Erlass hatte am Wochenende die Entlassung von weiteren 4000 Beamten in Ministerien, dem Verfassungsgericht, der Wahlkommission und anderer Institutionen als mutmaßliche Anhänger des ErdoganErzfeindes Fethullah Gülen angeordnet. Das Innenministerium teilte mit, weitere 2600 Verdächtige seien vorige Woche bei Antiterror-Aktionen gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger und militante Kurden festgenommen worden.
Dass Erdogan seine Machtfülle ausweiten wird, deutet sich an. Laut Medienberichten plant er nun auch eine Säuberungswelle in der Regierungspartei AKP. Am heutigen Dienstag will der Staatspräsident offiziell wieder in die AKP eintreten: Damit geht in der Türkei die Zeit des parteiunabhängigen Staatspräsidenten zu Ende. Nachdem Erdogans Parteimitgliedschaft durch die Zustimmung der Bürger beim Referendum ermöglicht wurde, will der 63-Jährige bald in einem Sonderparteitag auch den Parteivorsitz wieder übernehmen. Das Referendum mag umstritten sein, doch der türkische Staatschef lässt keinen Zweifel daran, dass er alle daraus resultierenden Vorteile für sich nutzen wird.