Wider dem Vergessen
Friedensräume erinnern mit Karl Schweizer an die NS-Zeit im Landkreis Lindau
LINDAU-SCHACHEN (isa)- Der ganze Landkreis Lindau mit seinen Städten, Dörfern, Weilern und Märkten hat eine braune Vergangenheit. Überall dort wurden in den Jahren zwischen 1933 bis 1945 Menschen vom NS-Regime verfolgt, mussten fliehen oder leisteten Widerstand. Dass dem so ist, ist längst bekannt. Einen erheblichen Anteil an dieser Aufarbeitung hat der Lindauer Karl Schweizer. Und obwohl er sich bereits seit Jahrzehnten mit diesem Thema beschäftigt, bringt er immer wieder neue Erkenntnisse zutage. Diese hat er in seinem neuesten Buch zusammengefasst und zahlreichen Interessierten in den Friedensräumen vorgestellt. Damit setzten die Friedensräume einmal mehr ein Zeichen gegen das Vergessen. Nicht umsonst hatte Koordinatorin Cornelia Speth bei ihrer Einführung in den Abend betont: „Wir wollen allen widersprechen, die sagen, das Thema ist abgehakt.“
2000 Bücher für die Jugend
Das Thema ist nicht abgehakt. Weder bei den zahlreichen Interessierten, die in die Friedensräume gekommen waren, um sich von Karl Schweizer über die nationalsozialistische Vergangenheit im Landkreis Lindau aufklären zu lassen, noch für den Landkreis selbst. Schließlich hat dieser sich, respektive Landrat Elmar Stegmann, auf einen Deal mit dem Lokalhistoriker und Lehrer eingelassen, dem das Lernen aus der Geschichte eine Herzensangelegenheit ist, und der, wie Schweizer dem Publikum erklärte, lautete: Er, Schweizer, verzichte auf ein Honorar, dafür bekommen alle Schüler im ganzen Landkreis der Klassen neun bis zwölf das Büchlein geschenkt. Rund 2000 der insgesamt 4000 aufgelegten Exemplare befinden sich nun in den Händen der Jugend, und es ist an ihr, die Lehren daraus zu ziehen.
Ihre Lehren aus dem, was Schweizer in vielen Jahren unermüdlicher Recherchen und nicht locker lassenden Nachfragens zusammengetragen und in dem Buch „Verfolgung, Flucht und Widerstand im Landkreis Lindau 1933-1945“niedergeschrieben hat, konnten die Interessierten schon mal aus seinem gleichnamigen Vortrag ziehen. So erfuhren sie, dass die „kriminelle Zeit“nicht erst mit der Machtergreifung Hitlers in den Landkreis kam, sondern schon viel früher. Bereits im Anschluss an den ersten Weltkrieg agierte der „Alldeutsche Verband“, aus dem sich 1920 in Lindau der „Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“gründete. Dieser vertrat im Gegensatz zum althergebrachten religiösen Antisemitismus bereits den völkischideologischen und gründete 1922, nach einem gescheiterten ersten Versuch 1921, die NSDAP-Ortsgruppe Lindau. 1923 folgte die Gründung der Ortsgruppe Lindenberg. Während die Lindauer in der Brauerei Schachen ihre Zusammenkünfte abhielten und dort darüber diskutierten, wie die Judenfrage zu lösen sei, trafen sich die Lindenberger im Café Schemminger. Ihre Mitglieder stammten aus der Mittelschicht. In Lindau gründete sich zudem 1922 die SA, in Lindenberg 1928.
Den wirklichen Anfang ihrer Blütezeit nahm die Nazibewegung jedoch erst ab 1925, nachdem Adolf Hitler persönlich bei der Neugründung der Lindauer NSDAP anwesend war. Schritt für Schritt gingen die Nazis gegen die Gewerkschaftsverbände, Kommunisten, Sozialisten und Juden vor, bis ihnen die Machtergreifung Hitlers 1933 das offizielle Recht dazu gab. Die ersten Verhaftungen fanden auf den Fuß statt. „Um die Leute zu demütigen, wurden sie öffentlich durch die Stadt zum Bahnhof geführt, um dann nach Dachau zu fahren“, berichtete Schweizer und erklärte, dass es in Lindau nicht anders zuging wie in anderen Städten. „Mit dem Unterschied, dass sie hier keine Leute umgebracht haben.“Was seiner Einschätzung nach daran lag, dass die Lindauer Nazis ihr Gesicht vor den Schweizer Touristen wahren wollten. Vorschub leistete den braunen Umtrieben die Tatsache, dass im Lindauer Stadtrat nicht nur zwei Nazis saßen, sondern auch Oberbürgermeister Ludwig Siebert sowie sein Sohn Friedrich seit 1931 Mitglieder der NSDAP waren. Ebenso wie sie sollten etwa auch die Lindenberger Otto Jung und Alfred Schneidawind sowie Josef Strodel und Georg Bodenmüller aus Hergensweiler innerhalb des deutschen Reiches steil Karriere machen.
Schweizer berichtete nicht nur über die Flucht- und Schmuggelwege im Landkreis, sondern auch über die Lebenswege dreier Kommunisten der ersten Verhaftungswelle, die aus Dachau entlassen wurden und nach Spanien zogen, um die Franco-Faschisten zu bekämpfen. Oder darüber, wie die Nazis die ländliche Bevölkerung für sich vereinnahmten, dass es auch im Landkreis 19 Euthanasieopfer gab und wie ein Vater aus Schlachters seine beiden Buben vor dem Tod bewahrt hat. Der Historiker bereicherte die Fakten mit Erzählungen von Begegnungen mit Zeitzeugen und ließ durch sein erzählerisches Talent den Abend nicht nur zu einem informativen, sondern auch zu einem fesselnden werden.0