Beklemmendes im Keller
Artig-Galerie: Zwölf Künstler bespielen das „Kunstreich“in Kempten
KEMPTEN - Wer im Kunstreich die Treppen hinuntersteigt – landet in der Natur. Stephan A. Schmidt projiziert Schilf auf die Ziegelwände. Die Kamera dieser Videoarbeit irrt durch einen Wald aus braunen Stängeln, die in dieser Entenperspektive wirken wie die Stämme eines Urwalds. Der Ausstellungs-Besucher, der nebenbei den muffigen Geruch eines lange verschlossenen Kellers riecht, wird von dieser etwas bedrohlichen Naturszene samt Windrauschen aus Lautsprechern fast völlig umfangen; einziger Lichtblick ist der blaue Himmel, der ab und zu aufs Tonnengewölbe fließt.
„I don’t think“hat Schmidt die Arbeit genannt, und das Nichtdenken beschert das stärkste Gefühl in dieser Ausstellung beim Kunst- und Kulturfestival des Vereins Artig. Denn der Kemptener Künstler (und Artig-Vorsitzende) führt den Betrachter vordergründig in ein schönes Stück Natur, hinterrücks in eine beklemmende Lage. Wie komme ich aus diesem Dickicht bloß wieder raus? Plötzlich wird eine genussvolle Situation unerquicklich. Eine sehr emotionale und suggestive Arbeit – was man von vielen anderen in der Schau nur eingeschränkt und von wenigen auch gar nicht sagen kann.
Bisher mietete der Verein für sein Artig-Festival, das im zweijährigen Turnus stattfindet, immer die Kemptener Markthalle an. Nun wollten die Mitglieder die Ausstellung samt den Konzerten, Lesungen und Filmen in den eigenen vier Wänden präsentieren. Die reduzierten Möglichkeiten nehmen sie in ihrem „Kunstwohnzimmer“gerne in Kauf, etwa dass sich die Ausstellungsfläche um zwei Drittel reduziert und den Besuchern eine ganz andere Atmosphäre geboten wird. Denn die vereinseigene Galerie Kunstreich atmet mittelalterliches Flair mit unebenen Böden, verwinkelten Räumen und dicken Balken quer durch selbige. Wie soll sich da Kunst entfalten?
Dass es geht, beweisen die ArtigAktiven mit den vielen Ausstellungen, die sie seit fünf Jahren im Kunstreich organisieren. Fast 50 sind es geworden. Und wie so oft ist es erstaunlich, wie viele Werke Platz im Kunstreich finden. Manches hängt richtig gut, manches grenzwertig. So klebt beispielsweise eine von den feinen „Polaroid Transfers“von Florian Wendel (Sonthofen) an einer Schrankwand. Gegen diesen banalen Ort hat die poetisch-leise Fotoarbeit mit verblassenden Farben kaum Chance auf Wirkung. Auch die Türen im Obergeschoss, hinter denen sich Räume von Parteien und Vereinen befinden, sind eigentlich eine Zumutung.
Insgesamt entfaltet die Galerie dennoch gewissen Charme. Und die hinzugewonnenen Kellergewölbe lassen die Ausstellungsfläche wachsen. Dort unten kann man beispielsweise die Acrylgemälde von Gwen Boos (Kempten) besichtigen, die Renaissance-Porträts von Vinci und Raffael humorvoll nachempfinden. Solcher Witz findet sich auch in den Aquarellen von Matthias Herzog (Sonthofen); er lässt ein Rhinozeros oder einen Eisbären durch die Lüfte schweben, gezogen von Luftballonhunden, die aussehen wie Jeff Koons farbig glänzende „Balloon Dogs“. Spiele mit der Kunstgeschichte also.
Überhaupt nicht spielerisch, sondern sehr berührend sind die Papierarbeiten und Monotypien der Augsburgerin Eileen O’Rourke. Sie hat mit Graphit-Stiften Porträts trauriger Kindern gezeichnet und erweist sich als Meisterin der Andeutung und des Weglassens – was die Fantasie des Betrachters umso mehr beflügelt. Als Meisterin der Farben und Lichtstimmungen kann man auch Susanne Praetorius bezeichnen. Die Kemptenerin verblüfft immer wieder mit unglaublicher Detailgenauigkeit in stimmungsvollen Bildern.
Zweidimensionales prägt diese Ausstellung mit den knapp 60 Werken – egal ob mit Pinsel, Stift, Fotoapparat oder als Collage gefertigt. Schade, dass bis auf Lucia Hiemers Holzskulptur keine Plastiken zu sehen sind. Wenigsten kann man sich im Schilf verirren.