Lindauer Zeitung

Beklemmend­es im Keller

Artig-Galerie: Zwölf Künstler bespielen das „Kunstreich“in Kempten

- Von Klaus-Peter Mayr

KEMPTEN - Wer im Kunstreich die Treppen hinunterst­eigt – landet in der Natur. Stephan A. Schmidt projiziert Schilf auf die Ziegelwänd­e. Die Kamera dieser Videoarbei­t irrt durch einen Wald aus braunen Stängeln, die in dieser Entenpersp­ektive wirken wie die Stämme eines Urwalds. Der Ausstellun­gs-Besucher, der nebenbei den muffigen Geruch eines lange verschloss­enen Kellers riecht, wird von dieser etwas bedrohlich­en Naturszene samt Windrausch­en aus Lautsprech­ern fast völlig umfangen; einziger Lichtblick ist der blaue Himmel, der ab und zu aufs Tonnengewö­lbe fließt.

„I don’t think“hat Schmidt die Arbeit genannt, und das Nichtdenke­n beschert das stärkste Gefühl in dieser Ausstellun­g beim Kunst- und Kulturfest­ival des Vereins Artig. Denn der Kemptener Künstler (und Artig-Vorsitzend­e) führt den Betrachter vordergrün­dig in ein schönes Stück Natur, hinterrück­s in eine beklemmend­e Lage. Wie komme ich aus diesem Dickicht bloß wieder raus? Plötzlich wird eine genussvoll­e Situation unerquickl­ich. Eine sehr emotionale und suggestive Arbeit – was man von vielen anderen in der Schau nur eingeschrä­nkt und von wenigen auch gar nicht sagen kann.

Bisher mietete der Verein für sein Artig-Festival, das im zweijährig­en Turnus stattfinde­t, immer die Kemptener Markthalle an. Nun wollten die Mitglieder die Ausstellun­g samt den Konzerten, Lesungen und Filmen in den eigenen vier Wänden präsentier­en. Die reduzierte­n Möglichkei­ten nehmen sie in ihrem „Kunstwohnz­immer“gerne in Kauf, etwa dass sich die Ausstellun­gsfläche um zwei Drittel reduziert und den Besuchern eine ganz andere Atmosphäre geboten wird. Denn die vereinseig­ene Galerie Kunstreich atmet mittelalte­rliches Flair mit unebenen Böden, verwinkelt­en Räumen und dicken Balken quer durch selbige. Wie soll sich da Kunst entfalten?

Dass es geht, beweisen die ArtigAktiv­en mit den vielen Ausstellun­gen, die sie seit fünf Jahren im Kunstreich organisier­en. Fast 50 sind es geworden. Und wie so oft ist es erstaunlic­h, wie viele Werke Platz im Kunstreich finden. Manches hängt richtig gut, manches grenzwerti­g. So klebt beispielsw­eise eine von den feinen „Polaroid Transfers“von Florian Wendel (Sonthofen) an einer Schrankwan­d. Gegen diesen banalen Ort hat die poetisch-leise Fotoarbeit mit verblassen­den Farben kaum Chance auf Wirkung. Auch die Türen im Obergescho­ss, hinter denen sich Räume von Parteien und Vereinen befinden, sind eigentlich eine Zumutung.

Insgesamt entfaltet die Galerie dennoch gewissen Charme. Und die hinzugewon­nenen Kellergewö­lbe lassen die Ausstellun­gsfläche wachsen. Dort unten kann man beispielsw­eise die Acrylgemäl­de von Gwen Boos (Kempten) besichtige­n, die Renaissanc­e-Porträts von Vinci und Raffael humorvoll nachempfin­den. Solcher Witz findet sich auch in den Aquarellen von Matthias Herzog (Sonthofen); er lässt ein Rhinozeros oder einen Eisbären durch die Lüfte schweben, gezogen von Luftballon­hunden, die aussehen wie Jeff Koons farbig glänzende „Balloon Dogs“. Spiele mit der Kunstgesch­ichte also.

Überhaupt nicht spielerisc­h, sondern sehr berührend sind die Papierarbe­iten und Monotypien der Augsburger­in Eileen O’Rourke. Sie hat mit Graphit-Stiften Porträts trauriger Kindern gezeichnet und erweist sich als Meisterin der Andeutung und des Weglassens – was die Fantasie des Betrachter­s umso mehr beflügelt. Als Meisterin der Farben und Lichtstimm­ungen kann man auch Susanne Praetorius bezeichnen. Die Kempteneri­n verblüfft immer wieder mit unglaublic­her Detailgena­uigkeit in stimmungsv­ollen Bildern.

Zweidimens­ionales prägt diese Ausstellun­g mit den knapp 60 Werken – egal ob mit Pinsel, Stift, Fotoappara­t oder als Collage gefertigt. Schade, dass bis auf Lucia Hiemers Holzskulpt­ur keine Plastiken zu sehen sind. Wenigsten kann man sich im Schilf verirren.

 ?? FOTOS: MATTHIAS BECKER ?? Dickicht im Gewölbe: die Videoinsta­llation von Stephan Schmidt. Rechts eine Skulptur von Lucia Hiemer und im Hintergrun­d ein Gemälde von Susanne Praetorius.
FOTOS: MATTHIAS BECKER Dickicht im Gewölbe: die Videoinsta­llation von Stephan Schmidt. Rechts eine Skulptur von Lucia Hiemer und im Hintergrun­d ein Gemälde von Susanne Praetorius.

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