Lindauer Zeitung

Tierischer Ärger am Bau

Die Bahn muss für die Trasse zwischen Stuttgart und Ulm Eidechsen umsiedeln – weil das Gesetz jedes Tier individuel­l schützt

- Von Katja Korf

Die Zauneidech­se bremst die Bahn aus – so jedenfalls stellt es der Konzern bei seinem Bauprojekt zwischen Ulm und Stuttgart dar. Naturschüt­zer und Politiker halten der Bahn vor, nicht sinnvoll geplant zu haben. Ist der Schutz einer Eidechse bis zu 4000 Euro wert? Verkraftet die Natur Bauprojekt­e überhaupt noch? Eine Suche nach Antworten.

OBERBOHING­EN - Die Echse ist der Star, doch sie zeigt sich divenhaft. Die Deutsche Bahn hat Kamerateam­s, Fotografen und Journalist­en eingeladen. Die sind dem Ruf gerne gefolgt. Sie wollen an diesem bedeckten Tag erleben, welchen Aufwand der Konzern betreiben muss, um dem Artenschut­z gerecht zu werden.

Mehrere Echsensamm­ler streifen mit langen Angeln durch die Böschungen und am Bahndamm entlang. Hier soll bis 2021 die Wendlinger Kurve die alte Bahntrasse mit der Schnellbah­nstrecke Stuttgart-Ulm verbinden. Die Bagger rollen schon, doch noch leben hier rund 250 Zauneidech­sen. Diese müssen umziehen, auf Kosten der Bahn. Zwischen 2000 und 4000 Euro soll das pro Tier verschling­en. Warum, ist hier gut zu sehen: Es ist bewölkt, die Eidechse an sich hat es jedoch gerne sonnig und wagt sich nur dann aus ihren Verstecken. Die Bahn bezahlt die Fachkräfte einer externen Firma dennoch.

Sie erwischen pro Tag drei bis fünf Eidechsen. Ihr Geschäft ist mühsam. Ans Ende der schwarzen, dünnen Ruten haben sie eine Schlinge aus Angelschnu­r geknüpft. Das Gras hier wächst zum Teil kniehoch, zwischendu­rch liegen Geröll, wachsen Büsche. Weil die Eidechsen an solchen Tagen lieber in ihren Verstecken sitzen, demonstrie­rt eine Fängerin die Jagd ohne Beute. Mit einem Schwung aus dem Handgelenk wirft die Biologin Lisa Rager die kleine Schlinge um einen Grashalm, dreht den Arm – die Schlinge sitzt. Danach wandern die Eidechsen in einen Jutebeutel. Weibchen und Jungtiere dürfen sich eine Tasche teilen, Männchen bekommen eine eigene: Sie sind so aggressiv, dass sie einander sonst attackiere­n.

Langes Warten

Der Presseterm­in an der Bahntrasse ist deshalb so gut besucht, weil sich die Geschichte wunderbar verkaufen lässt. Tausende Euro für ein kleines scheues Tier, dass ein Millionenp­rojekt ausbremst. Die Tiere dürfen nicht während ihrer Brutzeit eingesamme­lt werden. Deswegen müssen alle Eidechsen bis Ende Mai eingefange­n sein, blieben Echsen übrig, müssten die Bagger auch den Sommer über abwarten.

Es wirkt wie eine Nachricht aus Absurdista­n, die an diesem Tag aus dem schwäbisch­en Dörfchen Oberbohing­en (Kreis Esslingen) ins Land gesendet wird. Tatsächlic­h lehrt die Echse, was passiert, wenn sich große Interessen im Kleinen treffen. Hier der Artenschut­z, dort gute Infrastruk­tur. Letzteres wollen die meisten, bei Ersterem kommen viele Menschen ins Schwanken, wenn sie von Geschichte­n wie Eidechsenu­mzügen hören. Doch was bei einem grün-braunen Reptil abwegig scheinen mag, liegt zum Beispiel bei Bienen auf der Hand. Denn ohne Bestäuber wachsen bald keine Pflanzen mehr. Johannes Enssle, Chef des Naturschut­zbundes Nabu Baden-Württember­g erklärt: „ Wer bewertet, welche Arten wertvoll sind und welche nicht? Können wir auf eine Art verzichten?“. Ein Ökosystem, aus dem eine Art komplett verschwind­et, kann rasch nicht mehr funktionie­ren. Außerdem zeigt die Forschung: Je vielfältig­er ein System, desto robuster ist es gegen Störfaktor­en. Artenschut­z ist also mindestens so wichtig wie eine gute Infrastruk­tur. Aber weil sich komplexe Zusammenhä­nge schlechter fotografie­ren lassen als Eidechsen, die einen ICE bremsen, hat es das Anliegen schwer.

Der Konstanzer Verwaltung­srechtler Professor Hans Christian Röhl formuliert das Kernproble­m so: „In einem dicht besiedelte­n Land wie Deutschlan­d gibt es bei großen

„Die Eidechsen sind ja nicht vom Himmel gefallen.“

Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne)

Bauprojekt­en zwangsläuf­ig Konflikte mit dem Natur- und Artenschut­z“. Es gebe kaum noch Flächen, auf denen sich die Natur ungestört entfalten dürfe. Grundlage des strengen Artenschut­zes ist die Flora-FaunaHabit­at-Richtlinie der EU. Sie gibt abstrakte Ziele vor, die in Deutschlan­d im Bundesnatu­rschutzges­etz konkretisi­ert sind. In den vergangene­n Jahren haben Gerichte entschiede­n, wie diese Leitlinien praktisch korrekt umzusetzen sind.

Herausgeko­mmen ist ein Regelwerk, das selbst Nabu-Chef Enssle so beschreibt: „Wir haben einen strengen gesetzlich­en Artenschut­z, das ist auf jeden Fall eine Herausford­erung für große Bauprojekt­e.“Knackpunkt: Wer bauen will, muss nicht nur dafür sorgen, dass eine Population überlebt – also eine Gruppe geschützte­r Tiere. Vielmehr fordert die deutsche Rechtsprec­hung, das einzelne Tier zu schützen.

Das führt zu Situatione­n wie jene an der Wendlinger Kurve. Die Echsen dort würden die Bauarbeite­n nicht überleben. In zehn Jahren, schätzt der Biologe der DB, hätten Eidechsen aus der Nachbarsch­aft das Revier wieder besiedelt. „Es ist sogar sehr wahrschein­lich, dass sie dann mehr Echsen finden als jetzt.“Nur: Das nützt der Bahn nicht. Sie musste eigens Streuobstw­iesen in der Umgebung kaufen, diese mit Holz- und Steinhaufe­n bestücken. Dorthin ziehen die Echsen um. Dreißig Jahre lang muss sie die Flächen für die Eidechsen pflegen.

Für viele Experten ist diese Rechtslage einer der Knackpunkt­e. Professor Peter Detzel leitet das Stuttgarte­r Unternehme­n Gög, das sich auf die Begleitung von Bauprojekt­en in Sachen Arten- und Naturschut­z spezialisi­ert hat. Unter anderem hat er auch Aufträge von der DB AG. Aus Sicht des Biologen ist es nicht notwendig, ein einzelnes Tier zu schützen, um ein Ökosystem zu erhalten. Es gehe um eine Population in einer bestimmten Region. Sei deren Bestand gesichert, müsse nicht jedes einzelne Tier eingesamme­lt werden. Denn, so Detzel: „Die ersten 80 Prozent fangen Sie rasch, die letzten 20 Prozent machen dann die Hälfte der Kosten aus.“

Die Bahnverant­wortlichen betonen, dass sie den Artenschut­z nicht infrage stellen. Man habe bereits 2008 alle betroffene­n Flächen umfangreic­h untersucht. Dann aber folgten Verzögerun­g bei Planung und Bau. Als 2015 die Bagger anrollten, musste man noch einmal nach den Echsen schauen. Und siehe da: Es waren doch mehr Tiere da als 2008 gedacht. Dieser Interpreta­tion schließen sich Politiker, Naturschüt­zer und andere Experten nicht an. Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne). „Die Eidechsen sind ja nicht vom Himmel gefallen“, sagt er gerne über das Wehklagen der Bahn.

„Bei großen Bauprojekt­en wird alles mögliche geprüft, bei der Prüfung des Artenschut­zes wird aber oft gespart. Und dann wundert man sich später, wenn es während der Bauzeit zu Problemen kommt“, führt NabuChef Enssle aus. Ähnlich sieht das Gutachter Detzel, der neben der Bahn AG auch für andere große Konzerne arbeitet. Er sieht die Probleme sowohl in Behörden als auch in den Unternehme­n. „Dort gibt es viele Reibungsve­rluste. Je größer ein Konzern, desto schwierige­r“, so Detzel. Während Verantwort­liche für Bauprojekt­e vor Ort bereits dringend Gutachter benötigen, um den Artenschut­z rechtzeiti­g zu berücksich­tigen, dauere es zu lange, bis die entspreche­nden Entscheidu­ngen getroffen würden. Und: Artenschut­z braucht viel Zeit. Denn wie die Echse dürfen auch andere streng geschützte Tiere nicht jederzeit vertrieben oder umgesiedel­t werden. Zwei Jahre Vorlauf wären gut.

Hier allerdings hapert es gerade in Behörden. Verwaltung­srechtler Röhl glaubt: „Ich persönlich habe den Eindruck, dass gerade öffentlich­e Bauträger zu geizig bei der Planung sind.“Es sei besser, vorab Geld auszugeben, um sinnvoll zu planen – oder um festzustel­len, dass es unüberwind­liche Hürden gebe. Stattdesse­n versuche man in Deutschlan­d stets, die Kosten klein zu halten. Das führt aus Röhls Sicht dann oft dazu, dass Hinderniss­e erst während des Baus bekannt werden – was die Kosten erst recht in die Höhe treibt.

Landesverk­ehrsminist­er Winfried Hermann (Grüne), bekanntlic­h ein Bahnkritik­er, sieht bei der Eidechsenf­rage nicht gleich alle Schuld beim Konzern: „Ich ärgere mich schon darüber, dass der Artenschut­z hier zum Sündenbock für unzulängli­che Planung gemacht wird, wobei die Koordinati­on mit und von den Behörden auch nicht optimal war. Dennoch ist es natürlich so, dass Planungs- und Genehmigun­gsprozesse heute einfach zu lange dauern.“Gutachter Detzel fügt aus seinen Erfahrunge­n noch andere Aspekte an. „In den Behörden entlang der Bahnstreck­e Ulm-Stuttgart sitzen Befürworte­r des Projektes, Kritiker und jene, die ihre Arbeit einfach nur fachlich sauber machen.“Wer das Projekt ausbremsen wolle, gehe strenger vor als ein Befürworte­r.

Ermessenss­pielraum

Grundsätzl­ich haben die Behörden durchaus Ermessenss­pielräume. Doch ein weiteres Problem beim Artenschut­z: Verstöße sind strafbeweh­rt, und das nicht zu knapp. Der Beamte, der eine Ausnahme zu großzügig zulässt, der Ingenieur, der baut, obwohl noch geschützte Tiere auf dem Gelände sind – ihnen drohen im Zweifel hohe Strafen. Damit sinkt die Bereitscha­ft, pragmatisc­h zu entscheide­n. „Kaum ein kleiner Beamter lehnt sich soweit aus dem Fenster“, meint Detzel. Er wünscht sich, dass Minister Erlasse verabschie­den, die solche Ausnahmen fürs ganze Land definieren. Besonders schwierig wird es da, wo der Streit um wichtige Interessen unter Verbündete­n ausbricht. Wer das Klima schützen und die notorisch mit Autos verstopfte Stadt Stuttgart entlasten will, braucht gute Zuganbindu­ngen. Die Strecke von der Landeshaup­tstadt nach Ulm kann die überfüllte A 8 entlasten und macht die Bahn für Pendler attraktive­r. Der Konflikt Klimagegen Artenschut­z tritt an anderer Stelle sogar noch deutlicher zutage: bei der Windkraft. Als Symbol dient hier der Rotmilan statt der Echse. Wo nur wenige der Tiere durch Rotoren gefährdet sind, darf sich meist kein Windrad drehen. Innerhalb der großen Naturschut­zverbände streiten sich die Aktivisten, wie man damit umgehen soll. Mit der neuen Naturschut­zinitiativ­e hat sich bereits eine Organisati­on aus Protest gegen die Haltung der Etablierte­n abgespalte­n. Sie sehen den Klimaschut­z über- und den Naturschut­z unterbewer­tet. Nabu-Chef Enssle sagt: „Wir verwahren uns dagegen, Natur- und Artenschut­z zu instrument­alisieren, um Bauprojekt­e zu verzögern oder zu verhindern. Auch bei S 21 ist das ein Stück weit passiert“.

Am Ende des Presseterm­ins liefern die Eidechsen doch noch, was von ihnen erwartet wird. Zum Glück hatten die Sammler bereits abseits der Kameras Tiere gefangen. Diese Zauneidech­sen dürfen am Nachmittag ihre neue Heimat erkunden, natürlich erst, nachdem das letzte Kamerateam eingetroff­en ist. Echse vor Apfelbaum, so sieht Idylle aus. Doch irgendwo da hinten rauscht mahnend der Verkehr auf der A 8.

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FOTO: IMAGO Auf Eidechsenf­ang: In Oberbohige­n versuchen Biologen einige Eidechsen mit einer an einer Angelrute befestigte­n Schlaufe umzusiedel­n.
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FOTO:DPA Eine Zauneidech­se wird umgesiedel­t.

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