Lindauer Zeitung

„Ehrenmord“: Angeklagte in Istanbul freigespro­chen

Gericht erkennt im Prozess gegen die Brüder der in Berlin ermordeten Hatun Sürücü auf Mangel an Beweisen

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Mehr als zwölf Jahre nach dem „Ehrenmord“an Hatun Sürücü in Berlin muss die Familie des Mordopfers vorerst keine Strafverfo­lgung mehr befürchten. Ein Gericht in der türkischen Metropole Istanbul sprach zwei ältere Brüder von Hatun Sürücü frei. Sie sollen im Februar 2005 in der deutschen Hauptstadt die Tatwaffe besorgt und ihren jüngeren Bruder zu den Schüssen auf ihre Schwester angehalten haben. Die Istanbuler Staatsanwa­ltschaft hatte eine Verurteilu­ng von Mutlu und Alparslan Sürücü wegen Beihilfe zum Mord gefordert. Türkische Frauenrech­tlerinnen machen das verschärft­e politische Klima in der Türkei unter dem Ausnahmezu­stand für die Entscheidu­ng mitverantw­ortlich und setzen ihre Hoffnungen auf Deutschlan­d.

Das Gericht begründete die Freisprüch­e mit einem Mangel an Beweisen; bei einer Verurteilu­ng hätten die Angeklagte­n mit jeweils bis zu 20 Jahren Haft rechnen müssen. Hatun Sürücü, die als Teenager von ihren Eltern in der Türkei zwangsverh­eiratet wurde, war wegen ihrer westlichen Lebensweis­e an einer Bushaltest­elle in Berlin mit drei Kopfschüss­en ermordet worden. Der Fall hatte in Deutschlan­d eine heftige Diskussion über sogenannte „Ehrenmorde“ausgelöst. Sie wurde unter anderem durch das Verhalten der Familie angefacht. Der als Todesschüt­ze verurteilt­e jüngere Sürücü-Bruder Ayhan berichtete vor Gericht in Berlin von seiner Verachtung für die Lebensweis­e seiner Schwester.

Der Istanbuler Prozess gegen die beiden älteren Sürücü-Brüder Mutlu und Alparslan begann im Januar vergangene­n Jahres und war eine Folge der Gerichtspr­ozesse in Deutschlan­d. In Berlin war Ayhan Sürücü im Jahr 2006 zu neun Jahren Haft verurteilt und nach Verbüßung der Strafe in die Türkei abgeschobe­n worden, wo auch seine heute 36 und 38 Jahre alten Brüder leben. Ayhan soll als Täter ausgesucht worden sein, weil er als damals 19-jähriger mit einer relativ milden Strafe rechnen konnte – eine Taktik, die bei „Ehrenmorde­n“ häufig angewandt wird. Mutlu und Aplarslan hatten in Berlin zwar ebenfalls vor dem Richter gestanden, waren aber ebenfalls aus Mangel an Beweisen freigespro­chen worden und hatten sich an den Bosporus abgesetzt. Deutsche Auslieferu­ngsanträge nach der Aufhebung der Freisprüch­e durch den Bundesgeri­chtshof im Jahr 2007 lehnte die Türkei ab und leitete stattdesse­n ein eigenes Verfahren ein.

Vor den Istanbuler Richtern wiederholt­en die drei Sürücüs ihre Version der Dinge: Ayhan bekräftigt­e, er habe den Mord allein und ohne Hilfe seiner Brüder begangen. Im Übrigen bedauere er es, dass sich die türkische Justiz mit der Sache befassen müsse. Reue wegen des Mordes an seiner Schwester war bei ihm nicht erkennbar. Ayhans Brüder verwiesen auf ihre Freisprüch­e in Deutschlan­d und blieben auf freiem Fuß.

Mit Hilfe von Telefonauf­zeichnunge­n aus Deutschlan­d wollte die Istanbuler Staatsanwa­ltschaft den Sürücü-Brüdern nachweisen, dass sie unmittelba­r nach dem Mord miteinande­r gesprochen hatten. Zudem soll Ayhan Sürücü seiner damaligen Freundin gesagt haben, er sei von seinen Brüdern unterstütz­t worden. Die Frau wurde im Istanbuler Prozess jedoch nicht vernommen.

Nach den Freisprüch­en kann die Istanbuler Staatsanwa­ltschaft nun Einspruch bei einem übergeordn­eten Gericht einlegen. Am Dienstag blieb zunächst aber offen, ob dies geschehen wird. Gülsüm Kav, Vorsitzend­e der Gruppe „Wir stoppen die Gewalt gegen Frauen“, sagte der „Schwäbisch­en Zeitung“, sie setze keinen großen Hoffnungen mehr in die türkische Justiz.

Insbesonde­re seit der Verhängung des Ausnahmezu­standes in der Türkei nach dem Putschvers­uch des vergangene­n Jahres beobachte ihr Verband, dass Gerichtsve­rfahren wegen Verbrechen an Frauen auffällig häufig mit Freisprüch­en endeten, sagte die Frauenrech­tlerin Kav. Laut einer Zählung der Internetpl­attform Bianet wurden im vergangene­n Jahr in der Türkei 261 Frauen von Angehörige­n oder Lebensgefä­hrten getötet; in den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden bereits 101 Opfer gezählt.

Kav betonte, Gerechtigk­eit für Hatun Sürücü könne nun nur noch vom europäisch­en Menschenre­chtsgerich­tshof oder von der deutschen Justiz kommen. Die Bundesrepu­blik könne nach den Freisprüch­en in Istanbul von der Türkei nun die Auslieferu­ng von Mutlu und Alparslan verlangen, sagte die Frauenrech­tlerin. Die Erfolgscha­ncen einer solchen Initiative Berlins wären allerdings äußerst gering.

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FOTO: DPA Erinnerung an ein schrecklic­hes Verbrechen: In der Berliner Oberlandst­raße starb Hatun Sürücü.

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