Behinderung wird noch stigmatisiert
Lebenshilfe im Landkreis Lindau feiert 50-jähriges Bestehen – Inklusion hat Grenzen
KREIS LINDAU - Am Anfang ging es darum, dass behinderte Kinder Kindergarten und Schule besuchen können. Heute, 50 Jahre später, haben Menschen mit Behinderung viele Chancen: Sie können in Regelklassen lernen, selber Geld verdienen, so gut es geht eigenständig wohnen. Möglich gemacht hat das auch die Lebenshilfe. Inklusion ist das große Stichwort. Doch die Inklusion stoße an ihre Grenzen, sagt Frank Reisinger, Leiter der Lindenberger Lebenshilfe, im Interview mit Bettina Buhl. Und auf seine Einrichtung kämen künftig noch mehr Herausforderungen zu.
Herr Reisinger, was bedeutet Lebenshilfe? Braucht nicht jeder Hilfe im Leben?
Das stimmt. Aber manche Menschen brauchen ein bisschen mehr Hilfe. Hier befindet sich die Lebenshilfe aktuell. Von der geschichtlichen Seite betrachtet hat sich einiges getan. Vor 50, 60 Jahren war das Leben behinderter Menschen wenig wert. Sie wurden massiv behindert durch die Gesellschaft. Bis 1975 durften sie nicht einmal zur Schule. Vor diesem Hintergrund ist es schwer Lebenshilfe zu definieren. Zum einen ist es die aktive Hilfe die Gesellschaft zu ändern. Zum anderen ist es, einen Rahmen zu geben, der Menschen hilft, sich selber zu helfen: So viel wie möglich, so wenig wie nötig.
Was ist das größere Problem: Die Behinderung durch eine Einschränkung oder die Behinderung durch die Gesellschaft?
„Größeres Problem“ist schwer zu fixieren. Es fängt schon damit an zu sagen, wann ein Mensch behindert ist. Nehme ich meine Brille ab, bin ich auch behindert. Die Behinderung durch die Gesellschaft heute ist nicht aktiv. Ein Thema, das in der ganzen Inklusionsdiskussion meist unterschätzt wird, ist die ganz normale Gruppenbildung. Es ist wie beim Fahrradfahren. Natürlich nimmt man einen langsamen Radler mit, passt sich ihm an. Aber irgendwann wird das anstrengend, möchte man auch mal schneller fahren.
Jeder will heute offen mit der Inklusion umgehen, aber es gibt Berührungsängste. Wo spüren Sie diese?
Das kommt immer wieder vor. Es ist völlig normal, dass es beim ersten Treffen zwischen einem Menschen mit Behinderung und einem Nichtbehinderten Berührungsängste gibt – auf beiden Seiten. Man weiß noch nicht, wie man miteinander umgeht. Deswegen sind unsere Kooperationsprojekte so wichtig. Lernen sich zum Beispiel der Mensch mit Behinderung und der tätowierte Jugendliche bei einem inklusiven Schulprojekt erst mal kennen, ist die Angst schnell weg.
Wann hat Behinderung ihre Stigmatisierung verloren?
Sie ist noch gar nicht weg. Bei körperlichen Behinderungen vielleicht schon. Bei geistigen Behinderungen ist es immer noch so, dass man nicht oft darüber redet. Ganz schwierig ist es bei seelischen Behinderungen. Die Betroffenen benötigen intensive Betreuung. An guten Tagen merkt man die Behinderung nicht, an schlechten Tagen werden sie zu ganz auffälligen Menschen. Das braucht viel Kraft und es ist schwer, sich darauf einzustellen.
Wie leicht fällt es Ihnen, über Ihre Arbeit zu sprechen?
Sehr leicht. Die Anerkennung, der Respekt von außen ist groß. Es ist ein sehr interessanter Arbeitsplatz, man hat sehr viel Kontakt mit allen möglichen Menschen: Kunden, Firmen, Eltern, Betreuern, Kostenträgern, Therapeuten, Vermietern, Mitarbeitern, Bürgermeistern, Fahrdiensten und so weiter.
Für viele Eltern ist es ein Schock, wenn sie merken, dass ihr Kind behindert ist. Früher sprach man darüber nicht, versteckte die Kinder sogar. Ist eine solche Scham heute noch spürbar?
Ja. Vor zehn Jahren hatten wir den letzten Fall, dass eine alte Frau gestorben ist und ein „Kind“– auch schon im mittleren Alter –tauchte im Haus auf, ohne dass jemand wusste, dass es das Kind gibt. Eine Behinderung wird erst mal als nicht normal empfunden und immer zu sagen „Ja, ich habe ein behindertes Kind“kann anstrengend sein. Auch, weil andere nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.
Überspitzt formuliert: Die Frau mit Down-Syndrom schreit, wirft mit Sachen um sich. Der Mann mit Schizophrenie brabbelt angsterfüllt vor sich hin. Solche Menschen finden doch im Arbeitsleben keinen Platz.
Das stimmt – und schon gar nicht in der Arbeitswelt, wie sie sich entwickelt. Eigentlich alle, die bei uns in der Werkstatt arbeiten, finden keinen anderen Arbeitsplatz, vor allem, weil die Arbeiten immer mehr digitalisiert, von Maschinen übernommen werden und die Aufgaben für langsamere Menschen wegfallen. Ich glaube nicht, dass die Arbeitswelt so umdenkt, dass alle Menschen einen Platz darin finden.
Hat die Inklusion also noch einen langen Weg vor sich?
Dass alle Menschen gleich sind, ist auf theoretischer Ebene möglich, es ist aber nicht realistisch. Es muss deutlich mehr Schienen geben, Menschen mit Behinderung zu unterstützen. Das heißt: Es sollte selbstverständlicher werden, zu helfen. Es braucht aber auch Einrichtungen, die einen geschützten Rahmen bieten. Wenn es beispielsweise für einen Menschen mit Behinderung in der freien Wirtschaft nicht funktioniert, so ist es sehr wichtig, dass dieser Mensch mit Behinderung ohne Hürden wieder zurückkommen kann.
Was können wir von Menschen mit Behinderungen lernen?
Ehrlichkeit. Diese Menschen tragen ihr Herz auf der Zunge und nehmen keine Rücksicht auf Konventionen. Sie sind auch sehr fröhliche Menschen und hadern kaum mit ihrem Schicksal.
Die Lebenshilfe Lindenberg geht auf die Initiative von Pia Braun zurück, Mutter einer autistischen Tochter, die dafür kämpfte, dass Menschen mit Behinderung Kindergarten und Schule besuchen können und gefördert werden. Heute ist sie eine große Organisation, die viele Spektren abdeckt. Wie geht es weiter?
Ein Bereich ist sicherlich, dass wir noch mehr in wohnortnahe Betreuung investieren. Wünschenswert ist, dass wir unser sozialpädagogisches Know-how mehr Firmen und Betrieben anbieten können, Menschen mit Behinderung auch am Arbeitsplatz außerhalb der Lebenshilfe zu betreuen. Aber das ist schwierig, weil die Frage der Finanzierung geklärt werden muss. Spannend wird es auch im Bereich Wohnen. In den nächsten zehn Jahren werden 40 unserer Betreuten über 65 Jahre. 25 davon werden einen Wohnheimplatz brauchen, weil die Verwandten auch älter werden oder sterben. Wir werden mehr Wohnheime brauchen – und die müssen barrierefrei und seniorengerecht sein.