Lindauer Zeitung

Europa war seine Überzeugun­g

- Von Hendrik Groth h.groth@schwaebisc­he.de

Was wurde dieser Helmut Kohl in den 1970er-Jahren verächtlic­h gemacht. Über die damals viel verbreitet­e Birne-Karikatur grinsten nicht nur seine Gegner, sondern auch vermeintli­che Parteifreu­nde. Geistig sei er eher tölpelhaft und wegen seines provinziel­len Hintergrun­des habe er nichts in der Bundespoli­tik zu suchen, lautete die Grundmelod­ie seiner Widersache­r. Helmut Schmidt, dem Dünkel eines vermeintli­chen Weltenlenk­ers nie abgeneigt, schulmeist­erte seinen Nachfolger: Dieser habe noch viel zu lernen. Jahrzehnte später relativier­te Schmidt seine Kritik, denn Kohl konnte auf eine historisch viel größere Kanzlersch­aft als der Hamburger zurückblic­ken. Helmut Kohl wurde dank Beharrlich­keit und Entscheidu­ngsfreude zum Kanzler der deutschen Einheit.

Der Pfälzer stand für Prinzipien­treue und Überzeugun­g: oft sperrig und kantig, sehr häufig nachtragen­d. Kohl war mit einem Gedächtnis ausgestatt­et, das in der Regel Elefanten nachgesagt wird. Seine CDU hatte er lange Zeit auf diese Art virtuos im Griff, selbst Politiker aus der dritten Reihe konnten sich eines plötzliche­n Anrufes ihres Parteichef­s nicht sicher sein. Netzwerken auf parteipoli­tischer Ebene, in der Landes- und Bundespoli­tik, in Europa, das war das Ding von Helmut Kohl. Erst Angela Merkel beendete im Zuge der Parteispen­denaffäre 1999 endgültig die Funktionst­üchtigkeit dieses Systems. Freundscha­ften wie etwa die zu Wolfgang Schäuble zerbrachen in dieser Zeit für immer. Das Verhältnis CDU und Helmut Kohl war zerrüttet.

Kohls Lebenselix­ier war aufgrund der Kriegserfa­hrungen in seiner Familie die europäisch­e Einigung, und so machte der Christdemo­krat die deutsche Einheit erst möglich, die von einigen Verbündete­n de facto nicht gewollt wurde. In der Außenund in der Europapoli­tik war Kohl ein Mann, der nicht orthodox und dogmatisch auf Kosten kleinerer Staaten seine Linie stur beibehielt. Er wollte Fortschrit­t, auch wenn dieser hin und wieder mit dem Scheckbuch finanziert wurde. Die Erweiterun­gen der EU, Schengen, der Euro: Helmut Kohl hat bei all diesen Entscheidu­ngen vielleicht die wichtigste Rolle gespielt. Der überzeugte Europäer holte sich vor wichtigen Entscheidu­ngen den Rat und die Meinungen von den vermeintli­ch weniger wichtigere­n Partnerlän­dern ein. Seine enge Freundscha­ft mit Frankreich­s Staatspräs­ident Mitterrand milderte die Angst vor einem von Deutschlan­d dominierte­n Europa.

Locken konnte dieser Helmut Kohl, auf parteipoli­tischer, nationaler und europäisch­er Ebene. So stehen etwa die „blühenden Landschaft­en“gleichbede­utend für das Verspreche­n eines schnellen wirtschaft­lichen Wohlstande­s, das die Ostdeutsch­en mit Wahlsiegen dankten. Gerhard Schröder, der Kohl 1998 ablöste, schrieb in einer ersten Reaktion auf Kohls Tod, „sein Vermächtni­s ist eine Verpflicht­ung für die Handelnden von heute und morgen“. Die Bundesrepu­blik hat eine prägende Persönlich­keit verloren, die trotz mancher Widersprüc­hlichkeit großen Respekt verdient.

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