Besonderer „Spirit“
Weshalb das Gründerzentrum bewusst die Atmosphäre der Industriezeit ausstrahlt
KEMPTEN - Fast scheint es, die Beschäftigten der alten Weberei Kempten hätten ihren Arbeitsplatz erst vor wenigen Wochen verlassen. Freiliegende Druckrohre und Lüftungsschächte, weite, offene Räume und die filigrane Dachkonstruktion verströmen den Charme der fernen Industriezeit. Und selbst die mächtige Hebekonstruktion aus Stahl, die einst zentnerschwere Lasten bis an die sieben Meter hohe Decke hievte, ist noch immer funktionstüchtig.
Keine Frage: Die alte Schlichterei aus dem Jahr 1890, in der das digitale Gründerzentrum untergebracht ist, wartet mit außergewöhnlicher Atmosphäre auf. „Wir haben darauf gesetzt, diesen besonderen Spirit zu erhalten“, sagt Herbert Singer, Geschäftsführer des gemeinnützigen Wohnbauunternehmens Sozialbau. „Denn ein digitales Gründerzentrum braucht genau so eine Location.“Das schließt sogar die Graffitis ein, mit denen Jugendliche in den vergangenen Jahren die Innenwände verunstalteten.
400 der insgesamt 700 Quadratmeter Nutzfläche sind für die 16 Arbeitsplätze des Gründerzentrums reserviert – vorerst bis 2020. Die übrige Fläche bleibt vorerst ungenutzt. Die Sanierung des Gebäudes, in dem einst Textilfäden vor dem Weiterverarbeiten mit der Imprägnierflüssigkeit „Schlichte“geschmeidiger gemacht wurden, war für die Sozialbau ein echter Kraftakt. Schließlich steht das gesamte Areal der Weberei unter Denkmalschutz. Entsprechend sensibel wurde mit der Schlichterei umgegangen: „Wir haben sämtliche Details erhalten, vom Oberlicht bis zu den vier Meter hohen Bogenfenstern“, erläutert Singer.
Auf der anderen Seite musste das städtische Unternehmen betriebswirtschaftlich vorgehen. Und da kommt die angrenzende Sheddachhalle der Spinnerei ins Spiel, in der ab etwa 1850 unzählige Webstühle ratterten. Dort entstehen bis zum nächsten Jahr 46 Loftwohnungen mit 80 Tiefgaragenplätzen ( Infoblock ) – ein Projekt, das nicht Geld kosten, sondern einspielen soll.
Insgesamt investiert die Sozialbau 15 Millionen Euro in die Sanierung der zuletzt als Firmenlager genutzten Industriebrache und setzt damit ihr Engagement auf dem Gelände fort. Vor kurzem war das Nachbarhaus der Schlichterei denkmalgerecht aufgepeppt worden – dort ist inzwischen beispielsweise das Jobcenter der Agentur für Arbeit zu finden. Nur für ein Gebäude sucht das Unternehmen noch eine Nutzung: Der einstige Ölturm, ein dreigeschossiges Gebäude in klassischer Gründerzeitoptik, wird ebenfalls saniert. „Vielleicht kriegen wir dort stundenweise einen Bäckereiverkauf her“, sagt Singer. „Die Gründer haben sicher Hunger.“