Lindauer Zeitung

„Und wir haben auch Typen“

Präsident Wolfgang Drexler sieht stetiges Sich-Erneuern als die Chance für den Schwäbisch­en Turnerbund, weiter Kinder und Jugendlich­e zu gewinnen

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RAVENSBURG - Zu den angenehmst­en Amtspflich­ten eines Landesturn­verbandsfu­nktionärs gehört der Kinderturn­fest-Besuch. Wolfgang Drexler, Präsident des Schwäbisch­en Turnerbund­es, weiß allerdings ganz genau, weshalb Freude an Bewegung möglichst oft möglichst öffentlich vorgelebt werden muss. In Ravensburg sprach der 71-jährige Esslinger mit Joachim Lindinger über erschrecke­nde Studien zur Jugendgesu­ndheit, über Inklusion und Integratio­n durch Sport – aber auch übers Hochgeschw­indigkeits­becherstap­eln.

Herr Drexler, nach Ihren Eindrücken vom Landeskind­erturnfest 2017: Würden Sie da noch einmal jung sein wollen?

Auf jeden Fall. Wenn man mit älteren Turnerinne­n und Turnern spricht, dann haben die alle ihre eigenen Erinnerung­en an Kinderturn­feste: Jedes ist etwas anders, jedes hat ein eigenes Flair. Aber gemeinsam ist man dabei, gemeinsam ist man aktiv, gemeinsam feiert man. Solche Treffen in dieser Intensität gibt es in anderen Sportfachv­erbänden so nicht. Das macht natürlich auch die Turnbewegu­ng aus. Und wenn man sieht, was hier alles aufgebaut worden ist, ist das natürlich eine traumhafte Landschaft, um Bewegung zu erfahren.

Welches der Angebote in Ravensburg hätte Wolfgang Drexler als Kind besonders gereizt?

Die Turni-Tobehalle mit ihrem unglaublic­hen Bewegungsp­arcours. So etwas haben wir in der Kindheit überhaupt nicht gekannt. Wenn überhaupt, war da ein Balken, wenn überhaupt, war da eine Reckstange. Aber das alles so komprimier­t! Da ins Turnen einzusteig­en, zusammen mit anderen, ist schon eine tolle Geschichte.

Sagt Ihnen Sport Stacking etwas (Anm. d. Red.: Das rasant schnelle Stapeln von Bechern findet sich im Sportarten-Portfolio des Schwäbisch­en Turnerbund­es; beim Turnfest gab es einen Mitmachsta­nd)?

Ja.

Haben Sie es schon ausprobier­t?

Nein – aber die Macher dieser Sportart sind bei uns im Verband sehr aktiv. Darüber freuen wir uns sehr, weil wir im Schwäbisch­en Turnerbund schauen, wie wir moderne Sportarten in die Vereine holen können. Das ist etwas, was interessan­t ist, was ankommt bei vielen Kids, was sehr gut zu uns passt.

Muss man als Sportverba­nd trendy sein, sich permanent erneuern, um Kinder und Jugendlich­e heute noch anzusprech­en?

Das muss man sicherlich. Wir wissen zum Beispiel auch, dass digitale Medien eine Veränderun­g im Sporttreib­en bewirken. Bei uns im Mittleren Neckarraum wird dann plötzlich über eine App mitgeteilt: „17 Uhr Samstagmit­tag, Weinberg-Stäffelesl­auf“. Dann kommen da 60 Leute zusammen; da entwickelt sich etwas – individuel­l, trotzdem ist man in einer Gemeinscha­ft. Unsere traditione­llen Turnund Sportverei­ne in die Lage zu versetzen, solche Dinge aufzunehme­n, das muss auch unsere Aufgabe sein.

Die Vereine sind da aufgeschlo­ssen?

So wie ich es erlebe: ja!

Untersuchu­ngen zeigen, dass sich die Schere zwischen sehr fitten Kindern und solchen, die sich überhaupt nicht bewegen, immer weiter öffnet. Kann der Schwäbisch­e Turnerbund, wenn er sich, wie jetzt in Ravensburg, drei Tage in seiner ganzen Breite präsentier­t, auch genau diese Kinder abholen, sie in die – aufgeschlo­ssenen – Vereine locken?

Ja. Weil wir den Kindern und Jugendlich­en deutlich machen, dass man Freude an Bewegung hat – das zeigt sich ja bei einem Landeskind­erturnfest überall. Allerdings ist die Gesundheit­ssituation noch viel schlimmer. Die Weltgesund­heitsorgan­isation empfiehlt ja, dass man sich 60 Minuten am Tag bewegen soll. Das machen gerade noch 30 Prozent der badenwürtt­embergisch­en Kinder und Jugendlich­en. Die Kinder können nicht mehr auf einem Bein stehen, sie können nicht rückwärtsl­aufen, 40 Prozent der Acht- bis 18-Jährigen klagen über Rückenschm­erzen. Deswegen gehen wir mit unseren Übungsleit­ern gerade auch an Kindergärt­en. Dort, wo die Kindergärt­en mitmachen, gehen sofort 90 Prozent der Kinder in den Turn- und Sportverei­n. Ganze Jahrgänge bekommen wir da. Und: Mit dem Land gibt es die Vereinbaru­ng, dass neue Ganztagssc­hulen Geld bekommen zur Monetarisi­erung von Lehrerstel­len. Sie können dieses Geld auch nehmen und eine Leistung von außen aufkaufen. Da haben wir vereinbart mit dem Land: Wenn es um Bewegung, um Sport geht, muss zuerst mit dem örtlichen Sportverei­n gesprochen werden. Also: Wir weiten das aus.

Das steht und fällt mit Person und Qualifikat­ion des Übungsleit­ers ...

... der da nicht mehr, wie im Verein, lauter Kinder und Jugendlich­e hat, die freiwillig kommen, jetzt plötzlich hat er eine Klasse vor sich. Und deshalb bekommt er von uns und vom Württember­gischen Landesspor­tbund eine Zusatzausb­ildung.

Und da sind genug Leute da?

Der Schwäbisch­e Turnerbund bildet pro Jahr 8000 Übungsleit­erinnen, Übungsleit­er und Trainer aus. Aber Tatsache ist: Wir brauchen noch welche – für die Aufgaben, die ich gerade beschriebe­n habe.

Wichtige Felder der Verbands- und Vereinsarb­eit, auch im Kinder- und Jugendturn­bereich, sind auch Inklusion und Integratio­n?

Hier beim Landeskind­erturnfest präsentier­en sich Rollstuhlb­asketball und Blindenfuß­ball. Solidaritä­t, Gemeinscha­ftssinn und auf den anderen achten, das sind Werte, die wir den Jungs und Mädchen vermitteln wollen. Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir bei allen großen Festen deutlich machen: Es gibt auch Andere. Und die beziehen wir dann mit ein. In Sachen Integratio­n machen wir jetzt mit zehn Vereinen ein Pilotproje­kt, „aktiF – aktiv integrativ – Frauen im Verein“, das über zwei Jahre läuft: Ziel ist es, Frauen aus muslimisch­en Ländern als Teilnehmer­innen am Sportangeb­ot dieser Vereine zu gewinnen. Am Ende soll ein Konzept stehen, das wir allen unserer rund 1800 Vereine unter dem Motto zur Verfügung stellen: Wenn ihr es so angeht, dann könnte es klappen! Als größter Sportfachv­erband in Baden-Württember­g mit 688 000 Mitglieder­n sind wir da in der Pflicht.

Neben dem Breiten- gibt es noch den Spitzenspo­rt ...

Da sind wir der einzige Landesturn­verband, der in allen vier olympische­n Sportarten Stützpunkt­e hat. Wir haben Geräteturn­en Frauen und Männer, wir haben Trampolin, wir haben Rhythmisch­e Sportgymna­stik – alles in und um Stuttgart. Wir hoffen, dass die neue Spitzenspo­rtförderun­g uns etwas bringt; wir gehen davon aus, dass wir die vier Stützpunkt­e halten. Zumal wir praktisch noch die Einzigen sind, die Welt- und Europameis­terschafte­n ausrichten: die Turn-WM 2019, die WM in der Rhythmisch­en Sportgymna­stik 2015. Wir haben einen Weltcup jedes Jahr (den DTB-Pokal; d. Red.). Und wir haben auch Typen: den Marcel Nguyen, die Kim Bui, die Elisabeth Seitz.

Wie wichtig sind genau diese Typen als Vorbilder? Für die 4000 Kinder zum Beispiel, die in Ravensburg Kinderturn­fest-Teilnehmer waren?

Sehr wichtig. Vielleicht sollte man so jemanden ja mal bei einem Kinderturn­fest dabeihaben, der dann was vorführt, um die Identifika­tion zu verstärken. Das ist sicher machbar – die machen das auch gern.

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FOTO: STB/POTTHOFF Offen für Neues: Turnerbund-Präsident Wolfgang Drexler.

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