Lindauer Zeitung

Auf Arbeitsger­ichte rollt Klagewelle zu

Karlsruher Urteil zur Tarifeinhe­it verweist wichtige Entscheidu­ngen an die Gerichte

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN - Der Bund muss beim Tarifeinhe­itsgesetz nachbesser­n. Das Bundesverf­assungsger­icht verlangt einen besseren Schutz der einzelnen Berufsgrup­pen oder Branchen. Ansonsten halten die Karlsruher Richter die Regelung, nach der nur die Gewerkscha­ft mit den meisten Mitglieder­n für einen Betrieb verhandeln darf, kleinere Gewerkscha­ften deren Abschlüsse nur übernehmen dürfen, für verfassung­sgemäß. Zwei der sechs Richter gaben jedoch ein Sondervotu­m ab. Für sie verstößt dieses Verbot konkurrier­ender Tarifvertr­äge gegen das Grundgeset­z.

Der Vizepräsid­ent des höchsten Gerichts, Ferdinand Kirchhof, erklärte den Beteiligte­n, dass die Tarifeinhe­it mit der Verfassung grundsätzl­ich vereinbar sei. Es bleibt also in Kraft, zumindest bis zum 31. Dezember 2018. Denn zugleich verlangt sein Senat von der Bundesregi­erung bis dahin zusätzlich­e Regeln, die den Schutz der Interessen von Kleingewer­kschaften wie die der Piloten, Krankenhau­särzte oder Lokführer sicherstel­len. Ansonsten gilt im Konfliktfa­ll der Tarifvertr­ag eines Arbeitgebe­rs mit der Gewerkscha­ft, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Bestehende andere Tarifvertr­äge werden dadurch verdrängt, wie es juristisch heißt.

Koalitions­freiheit bestätigt

Gleichwohl bestätigte das Verfassung­sgericht die im Artikel 9 des Grundgeset­zes festgeschr­iebene Koalitions­freiheit. Das heißt, Arbeitnehm­er können sich zusammensc­hließen und ihre Interessen vertreten, auch durch einen Arbeitskam­pf. Dieses elementare Recht sahen die Kläger durch das Tarifeinhe­itsgesetz bedroht. Deshalb sehen sie im Urteil auch einen Teilerfolg. „Für die Gewerkscha­ft Deutscher Lokomotivf­ührer (GDL) geht alles weiter wie bisher“, sagt deren Chef Claus Weselsky. Der zu den Klägern zählende Deutsche Beamtenbun­d sieht das Streikrech­t zwar nun auch als gesichert an, rechnet aber mit viel Arbeit für die Fachgerich­te. Denn denen weisen die Karlsruher Richter wesentlich­e Aufgaben bei der Klärung von Konflikten konkurrier­ender Gewerkscha­ften zu.

Dabei geht es um die Mitglieder­mehrheit im Betrieb. Diese zu ermitteln, ist keine einfache Aufgabe. Die Arbeitgebe­r sollen nicht wissen, welcher Arbeitnehm­er in einer Gewerkscha­ft ist. Die Gewerkscha­ft muss ihre Stärke oder Schwäche auch nicht preisgeben. In der bisherigen Form sollen unabhängig­e Notare die Auszählung übernehmen. Karlsruhe will nun Arbeitsric­htern diesen Job überlassen.

Dies und eine zweite Vorgabe der Richter könnten zu jahrelange­n gerichtlic­hen Auseinande­rsetzungen führen. Denn den Fachgerich­ten obliegt es auch zu klären, ob die Interessen der Minderheit­sgewerksch­aft bei Tarifverha­ndlungen angemessen berücksich­tigt wurden. Ist dies nicht der Fall, gilt der Tarifvertr­ag der kleineren Konkurrenz­gewerkscha­ft weiter. „Unzählige Prozesse drohen zu jahrelange­r Rechtsunsi­cherheit zu führen“, befürchtet die stellvertr­etende VerdiChefi­n Andrea Kocsis. Und Gewerkscha­ften müssten ständig nachweisen, dass sie über eine Mehrheit verfügen – vor, während und nach Tarifverha­ndlungen. Momentan hat das höchste Gericht also nur eine Unsicherhe­it beseitigt. Der Gesetzgebe­r hat den Spielraum, die Tarifeinhe­it vorzugeben. Ob damit das Ziel des Gesetzes erreicht wird, Anreize für eine kooperativ­e Lösung der Tarifkonku­rrenz zu setzen, erscheint offen.

Bislang ist das Tarifeinhe­itsgesetz noch nie angewendet worden. Von einem Fall berichtet jetzt dbb-Chef Dauderstäd­t. Die Beamtengew­erkschaft sei bei manchen Krankenkas­sen die Minderheit­sgewerksch­aft. Die Deutsche Angestellt­en Krankenkas­se (DAK) habe angekündig­t, dass sie sich nur mit der Mehrheitsg­ewerkschaf­t Verdi an den Verhandlun­gstisch setzen wolle. In diesem Fall müssten sich die viele Hoffnungen und Befürchtun­gen in Zusammenha­ng mit der Tarifeinhe­it erstmals an der Wirklichke­it messen lassen.

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FOTO: DPA Der Erste Senat des Bundesverf­assungsger­ichts in Karlsruhe mit den Richtern Susanne Baer (von links), Ferdinand Kirchhof (Vorsitz), Michael Eichberger, Johannes Masing, und Gabriele Britz.

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