Der Sommer der Verzweiflung
Hunderttausende wissen in der Türkei nicht mehr weiter
ISTANBUL - Murat fährt dieses Jahr nicht in den Urlaub. Die Sommerhitze glüht in den Straßenschluchten von Istanbul, die Sonne brennt auf das Taxidach. Normalerweise würde Murat (Name geändert) um diese Jahreszeit mit seiner Familie für eine Woche ans Meer fahren. Doch das wäre jetzt geschmacklos – das könne er seinem Schwager nicht antun. Außerdem braucht der Taxifahrer jede Lira, um die Schwägerin und ihre drei kleinen Kinder zu unterstützen. Denn der Schwager sitzt seit elf Monaten hinter Gittern und bekommt kein Gehalt mehr – warum, wissen weder Murat noch der Schwager so recht.
Hunderttausende Menschen in der Türkei leben ein Jahr nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 mit der Verzweiflung. Mehr als 150 000 Staatsdiener wurden seitdem entlassen, über 50 000 Menschen sitzen in Haft, die meisten ohne Anklage. Die Regierung sagt, sie müsse zur Verhinderung eines neuen Putsches gegen Gefolgsleute des Predigers Fethullah Gülen vorgehen, den Ankara als Drahtzieher des Umsturzversuches sieht. Der Verdacht auf Gülen-Anhängerschaft ist meistens auch ohne Gerichtsbeschluss gleichbedeutend mit einem Schuldurteil – und dem wirtschaftlichen und sozialen Absturz der Betroffenen.
Wer als Beamter entlassen oder festgenommen wird, verliert sofort jeden Anspruch auf Gehalt, Abfindung oder Pension. Für jeden entlassenen oder festgenommenen Bürger geraten daher mindestens zehn weitere Menschen in existentielle Nöte. Weil die Verwandtschaft Murats relativ klein ist, betrifft der Fall des Schwagers aber auch „nur“zehn Menschen – die eigene Familie und Murat mit seiner Frau und den Kindern. In durchschnittlichen türkischen Familien sind es vier- bis fünfmal so viele Menschen, die direkt betroffen sind: Eltern, Geschwister und viele weitere Schwäger, Nichten und Neffen, die auch in Verdacht geraten und in finanzielle Mitleidenschaft.
Murats Schwager, der Ehemann der Schwester seiner Frau, war Polizeibeamter im südtürkischen Adana und ist Murats Erzählungen zufolge ein ebenso hilfsbereiter und freundlicher wie unpolitischer Mensch. Im August 2016 ist der Schwager verhaftet worden, einen Monat nach dem Putschversuch. Er wurde in ein Gefängnis in Izmir gesteckt, Tausende Kilometer von Adana entfernt. Eine Anklage liegt bis heute noch nicht vor – keine Begründung darüber, was ihm vorgeworfen wird, von Beweisen ganz zu schweigen. Seine Gehaltszahlungen wurden aber sofort gestoppt. Seine Frau wagt sich nicht in ihr Heimatdorf in der Schwarzmeerregion zurück, solange ihr Mann im Gefängnis ist – konservative Dörfer können gnadenlos sein im Umgang mit alleinstehenden Frauen, denen zudem noch Landesverrat nachgesagt wird. So steht sie alleine und mittellos da in der fremden Stadt, in die der Staat ihren Mann geschickt hatte.
Im Falle seines Schwagers vermutet Murat, dass ihm das Konto bei der Bank Aysa zum Verhängnis wurde. Sie wurde der Gülen-Bewegung zugerechnet, galt bis vor Kurzem noch als völlig seriös. Wer sein Konto bei der Bank nicht eilig auflöste, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sich vor dreieinhalb Jahren mit Gülen überwarf, gilt als unsicherer Kantonist und kommt erst einmal hinter Gitter, bis jemand sich seinen Fall genauer ansehen kann. Angesichts der Verhaftung vieler Richter kann das dauern.
Familien sind getrennt
Der Schwager Murats ist vernarrt in seine Kinder, die 14, elf und vier Jahre alt sind. „Die Kleine weint immerzu und fragt, wann der Vater nach Hause kommt“, erzählt Murat. Besuche sind durch die Distanz zwischen Adana und Izmir aber fast unmöglich. Zum Ramadanfest diese Woche war die Schwägerin erstmals mit den Kindern zu Besuch. „Aber die Reisekosten für die Entfernung, das ist nicht zu machen“, sagt Murat, der dafür auf den Jahresurlaub verzichtet hat.
Die Verzweiflung grassiert in der Türkei und greift nun auch auf Bevölkerungsteile über, die bisher verschont blieben. An diesem Sommer sei keine Freude zu haben, schrieb kürzlich Ayse Arman, die Gesellschaftskolumnistin der Zeitung „Hürriyet“, die mit ihrem Promi-Status fast unantastbar ist. Unzählige Menschen würden eingesperrt, ohne dass etwas gegen sie vorliege, „monatelang, nur um sie zu quälen“. Die Gesellschaft habe resigniert, klagte Arman. „Wir sagen uns ‚da ist nichts zu machen‘ und ziehen uns ins Private zurück“, schrieb die Gesellschaftsreporterin. „Was auf uns allen lastet in diesem Sommer, das ist die Verzweiflung.“