Gefangen in den Flammen
Bettina Deubel wurde vor fünf Jahren aus einem brennenden Reisebus gerettet
SCHEIDEGG - Ein Bus steht in Flammen. 18 Menschen sterben, 30 werden zum Teil schwer verletzt. Vom Fahrzeug bleibt nur das Stahlskelett übrig. Die Bilder des Unfalls am 3. Juli auf der A 9 in Oberfranken sind in den folgenden Tagen in allen Medien zu sehen. Der Anblick ist selbst für Unbeteiligte schwer zu ertragen. Wie muss das erst für Menschen sein, die Ähnliches erlebt haben? Bettina Deubel und ihr Mann Hans-Peter haben vor knapp fünf Jahren einen solchen Unfall überlebt. Sie waren Teilnehmer einer Reisegruppe aus dem Allgäu und Bodenseeraum, die in China verunglückt ist. Auch ihr Bus ist direkt nach dem Aufprall in Flammen aufgegangen. Sechs Menschen starben. Viele andere wurden zum Teil schwer verletzt.
Dass Bettina Deubel noch lebt, hat sie in erster Linie ihrem Mann zu verdanken. „Er war schon draußen, hat mich nicht gesehen, ist in den brennenden Bus zurück und hat mich aus den Flammen herausgeholt. Um mich herum lagen Leichen“, erzählt die heute 48-Jährige. Dabei zog sich der selbstständige Heilpraktiker selbst Verbrennungen an den Armen und im Gesicht zu. Seine Frau hat es allerdings viel schlimmer erwischt. Die Scheideggerin erlitt eine Hirnblutung, 80 Prozent ihrer Haut sind verbrannt.
„In Deutschland hätte ich diese Verletzungen nicht überlebt, haben mir die Ärzte später gesagt. Die Chinesen haben aber Methoden, aus wenig verbleibender Haut größere Flächen abzudecken“, sagt die Mutter zweier Töchter (16 und 18 Jahre alt), die sich als Marktgemeinderätin und Ortsheimatpflegerin in Scheidegg sowie als Kreisarchivpflegerin des Landkreises Lindau ehrenamtlich engagiert. Was genau die Mediziner in der Pekinger Klinik gemacht haben, weiß Deubel nicht – und sie will es auch gar nicht wissen. Von der Behandlung hat sie nichts mitbekommen. Sie lag viereinhalb Monate im Koma – erst in der Klinik in China, später im Krankenhaus Bogenhausen in München. Einen Bericht über die medizinische Versorgung in der Volksrepublik hat sie nie erhalten.
Bettina Deubel ist gezeichnet von den Folgen des Unfalls. Narben überziehen ihren gesamten Körper. Die Knie sind kaputt. „Ich musste quasi alles neu lernen. Anfangs konnte ich nicht einmal einen Finger bewegen.“Mit Anfang 40 war sie quasi von einem Tag auf den anderen komplett auf fremde Hilfe angewiesen. In ganz langsamen Schritten ging es aufwärts: im Bett und Rollstuhl sitzen, die ersten Schritte tun, alleine essen. Als sie zehneinhalb Monate nach dem Unfall das erste Mal für ein paar Wochen nach Hause durfte, brauchte sie einen speziellen 24-StundenPfleger, der nicht nur die Behandlung der Wunden und die Körperpflege bei ihr selbst übernahm. Er war auch für den Haushalt und das Kochen der Mahlzeiten für die beiden damals 13 und 15 Jahre alten Töchter und ihren Ehemann zuständig.
Rund 25 Operationen hinter sich
Vier Jahre lang ist sie wegen Wahrnehmungsstörungen nicht Auto gefahren. Inzwischen setzt sie sich aber wieder selbst ans Steuer – und freut sich über ein weiteres Stück Selbstständigkeit. Inzwischen hat Deubel mindestens 25 Operationen hinter sich. „Ich zähle nicht mehr mit“, sagt sie. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Weil sich die Narben immer wieder zusammenziehen und verkürzen, muss sie sich für den Rest ihres Lebens ein- bis zweimal im Jahr weiteren Operationen unterziehen – und danach zur Reha. „Das heißt, ich bin jedes Jahr mindestens drei Monate weg.“
Die Folgen der Verletzungen bestimmen auch den Alltag. Sie hat immer noch offene Stellen, die nicht oder nur sehr schlecht verheilen. Jeden Tag hat sie Termine – abwechselnd bei Physio- und Ergotherapeuten. „Außerdem muss ich viel baden oder duschen und die Narben immer eincremen und massieren, damit das Gewebe weich bleibt.“
Besonders schlimm ist für sie rückblickend die Situation ihrer Familie. Ihr Mann bekam in China teilweise mit, was mit ihr gemacht wurde, flog aber früher nach Hause. Er hat heute noch die Bilder von für Europäer schwer vorstellbaren Zuständen in Erinnerung. Ihr Vater, der sich eigentlich nur zehn Tage um seine Enkeltöchter hätte kümmern sollen, wusste drei Wochen lang nicht, ob seine Tochter den Unfall überlebt. Weil die beiden Kinder zu der Zeit noch nicht 14 Jahre alt waren, durften sie ihre Mutter – selbst als sie in Bogenhausen auf der Intensivstation lag – nicht besuchen. Zwei Monate haben sie einander nicht gesehen. Das alles zu verarbeiten, ist für alle Beteiligten nicht einfach, erzählt Deubel.
Sie selbst hat sich die Zeit gegeben, sich an die neue Situation zu gewöhnen. „Aber ich habe zum Beispiel zwei Jahre lang nicht in den Spiegel geschaut: Ich habe mich nicht drängen lassen, obwohl ich in der Klinik immer wieder dazu aufgefordert worden bin. Ich war mir immer sicher: Wenn es soweit ist, ist es soweit. Und als mich ein guter Freund zum ersten Mal gefragt hat, ob ich mit zum Essen in ein Lokal komme, habe ich gefragt: ,Könnt ihr euch überhaupt so mit mir blicken lassen?’“, erzählt Deubel.
Ihre erneute Kandidatur für die Marktgemeinderatswahl im März 2013 hat die Scheideggerin an eine Bedingung geknüpft. „Ich habe gesagt, ich gehe nur mit einem alten Foto, also einem vor dem Unfall, auf den Flyer.“Auch heute noch lässt sie sich nicht gerne und deshalb nur äußerst selten fotografieren.
Als sich Anfang vergangener Woche der schwere Busunfall in Oberfranken ereignet hat, war Bettina Deubel gerade in Le Beausset, der französischen Partnergemeinde von Scheidegg, zu einem Geburtstagsbesuch. Beim Frühstück sah sie im Fernsehen die Bilder vom Unglück. „Ich wurde prompt gefragt, wie es mir damit geht“, erzählt sie. „Ich habe kein Problem damit. Ich kann diese Bilder sehen. Ich lasse das nicht zu nah an mich heran“, lautete die Antwort. Auch ihr Mann habe viele Anrufe und E-Mails von Verwandten und Bekannten erhalten, die sich erkundigen wollten, wie es der Familie geht. „Für ihn ist das viel schlimmer“, sagt Deubel.
Trotz aller Schmerzen und Einschränkungen hat Deubel mit dem Geschehen mittlerweile ihren Frieden gemacht. „Es gibt Dinge, die muss man nehmen, wie sie kommen. Ich bin zwar nicht gläubig im eigentlichen Sinn, aber ich glaube an das Schicksal.“