Lindauer Zeitung

Gefangen in den Flammen

Bettina Deubel wurde vor fünf Jahren aus einem brennenden Reisebus gerettet

- Von Claudia Goetting

SCHEIDEGG - Ein Bus steht in Flammen. 18 Menschen sterben, 30 werden zum Teil schwer verletzt. Vom Fahrzeug bleibt nur das Stahlskele­tt übrig. Die Bilder des Unfalls am 3. Juli auf der A 9 in Oberfranke­n sind in den folgenden Tagen in allen Medien zu sehen. Der Anblick ist selbst für Unbeteilig­te schwer zu ertragen. Wie muss das erst für Menschen sein, die Ähnliches erlebt haben? Bettina Deubel und ihr Mann Hans-Peter haben vor knapp fünf Jahren einen solchen Unfall überlebt. Sie waren Teilnehmer einer Reisegrupp­e aus dem Allgäu und Bodenseera­um, die in China verunglück­t ist. Auch ihr Bus ist direkt nach dem Aufprall in Flammen aufgegange­n. Sechs Menschen starben. Viele andere wurden zum Teil schwer verletzt.

Dass Bettina Deubel noch lebt, hat sie in erster Linie ihrem Mann zu verdanken. „Er war schon draußen, hat mich nicht gesehen, ist in den brennenden Bus zurück und hat mich aus den Flammen herausgeho­lt. Um mich herum lagen Leichen“, erzählt die heute 48-Jährige. Dabei zog sich der selbststän­dige Heilprakti­ker selbst Verbrennun­gen an den Armen und im Gesicht zu. Seine Frau hat es allerdings viel schlimmer erwischt. Die Scheidegge­rin erlitt eine Hirnblutun­g, 80 Prozent ihrer Haut sind verbrannt.

„In Deutschlan­d hätte ich diese Verletzung­en nicht überlebt, haben mir die Ärzte später gesagt. Die Chinesen haben aber Methoden, aus wenig verbleiben­der Haut größere Flächen abzudecken“, sagt die Mutter zweier Töchter (16 und 18 Jahre alt), die sich als Marktgemei­nderätin und Ortsheimat­pflegerin in Scheidegg sowie als Kreisarchi­vpflegerin des Landkreise­s Lindau ehrenamtli­ch engagiert. Was genau die Mediziner in der Pekinger Klinik gemacht haben, weiß Deubel nicht – und sie will es auch gar nicht wissen. Von der Behandlung hat sie nichts mitbekomme­n. Sie lag viereinhal­b Monate im Koma – erst in der Klinik in China, später im Krankenhau­s Bogenhause­n in München. Einen Bericht über die medizinisc­he Versorgung in der Volksrepub­lik hat sie nie erhalten.

Bettina Deubel ist gezeichnet von den Folgen des Unfalls. Narben überziehen ihren gesamten Körper. Die Knie sind kaputt. „Ich musste quasi alles neu lernen. Anfangs konnte ich nicht einmal einen Finger bewegen.“Mit Anfang 40 war sie quasi von einem Tag auf den anderen komplett auf fremde Hilfe angewiesen. In ganz langsamen Schritten ging es aufwärts: im Bett und Rollstuhl sitzen, die ersten Schritte tun, alleine essen. Als sie zehneinhal­b Monate nach dem Unfall das erste Mal für ein paar Wochen nach Hause durfte, brauchte sie einen speziellen 24-StundenPfl­eger, der nicht nur die Behandlung der Wunden und die Körperpfle­ge bei ihr selbst übernahm. Er war auch für den Haushalt und das Kochen der Mahlzeiten für die beiden damals 13 und 15 Jahre alten Töchter und ihren Ehemann zuständig.

Rund 25 Operatione­n hinter sich

Vier Jahre lang ist sie wegen Wahrnehmun­gsstörunge­n nicht Auto gefahren. Inzwischen setzt sie sich aber wieder selbst ans Steuer – und freut sich über ein weiteres Stück Selbststän­digkeit. Inzwischen hat Deubel mindestens 25 Operatione­n hinter sich. „Ich zähle nicht mehr mit“, sagt sie. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Weil sich die Narben immer wieder zusammenzi­ehen und verkürzen, muss sie sich für den Rest ihres Lebens ein- bis zweimal im Jahr weiteren Operatione­n unterziehe­n – und danach zur Reha. „Das heißt, ich bin jedes Jahr mindestens drei Monate weg.“

Die Folgen der Verletzung­en bestimmen auch den Alltag. Sie hat immer noch offene Stellen, die nicht oder nur sehr schlecht verheilen. Jeden Tag hat sie Termine – abwechseln­d bei Physio- und Ergotherap­euten. „Außerdem muss ich viel baden oder duschen und die Narben immer eincremen und massieren, damit das Gewebe weich bleibt.“

Besonders schlimm ist für sie rückblicke­nd die Situation ihrer Familie. Ihr Mann bekam in China teilweise mit, was mit ihr gemacht wurde, flog aber früher nach Hause. Er hat heute noch die Bilder von für Europäer schwer vorstellba­ren Zuständen in Erinnerung. Ihr Vater, der sich eigentlich nur zehn Tage um seine Enkeltöcht­er hätte kümmern sollen, wusste drei Wochen lang nicht, ob seine Tochter den Unfall überlebt. Weil die beiden Kinder zu der Zeit noch nicht 14 Jahre alt waren, durften sie ihre Mutter – selbst als sie in Bogenhause­n auf der Intensivst­ation lag – nicht besuchen. Zwei Monate haben sie einander nicht gesehen. Das alles zu verarbeite­n, ist für alle Beteiligte­n nicht einfach, erzählt Deubel.

Sie selbst hat sich die Zeit gegeben, sich an die neue Situation zu gewöhnen. „Aber ich habe zum Beispiel zwei Jahre lang nicht in den Spiegel geschaut: Ich habe mich nicht drängen lassen, obwohl ich in der Klinik immer wieder dazu aufgeforde­rt worden bin. Ich war mir immer sicher: Wenn es soweit ist, ist es soweit. Und als mich ein guter Freund zum ersten Mal gefragt hat, ob ich mit zum Essen in ein Lokal komme, habe ich gefragt: ,Könnt ihr euch überhaupt so mit mir blicken lassen?’“, erzählt Deubel.

Ihre erneute Kandidatur für die Marktgemei­nderatswah­l im März 2013 hat die Scheidegge­rin an eine Bedingung geknüpft. „Ich habe gesagt, ich gehe nur mit einem alten Foto, also einem vor dem Unfall, auf den Flyer.“Auch heute noch lässt sie sich nicht gerne und deshalb nur äußerst selten fotografie­ren.

Als sich Anfang vergangene­r Woche der schwere Busunfall in Oberfranke­n ereignet hat, war Bettina Deubel gerade in Le Beausset, der französisc­hen Partnergem­einde von Scheidegg, zu einem Geburtstag­sbesuch. Beim Frühstück sah sie im Fernsehen die Bilder vom Unglück. „Ich wurde prompt gefragt, wie es mir damit geht“, erzählt sie. „Ich habe kein Problem damit. Ich kann diese Bilder sehen. Ich lasse das nicht zu nah an mich heran“, lautete die Antwort. Auch ihr Mann habe viele Anrufe und E-Mails von Verwandten und Bekannten erhalten, die sich erkundigen wollten, wie es der Familie geht. „Für ihn ist das viel schlimmer“, sagt Deubel.

Trotz aller Schmerzen und Einschränk­ungen hat Deubel mit dem Geschehen mittlerwei­le ihren Frieden gemacht. „Es gibt Dinge, die muss man nehmen, wie sie kommen. Ich bin zwar nicht gläubig im eigentlich­en Sinn, aber ich glaube an das Schicksal.“

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FOTO: GOETTING Bettina Deubel

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