Lindauer Zeitung

Mit kleinen Schritten in die Mitte der Gesellscha­ft

Die Wasserburg­erin Johanna Freunscht hat knapp 30 Jahre mit behinderte­n Menschen gearbeitet

- Von Claudia Goetting

WASSERBURG/LINDENBERG - „Ich habe das wirklich sehr, sehr gerne gemacht. Sonst wären es wohl auch nicht knapp 30 Jahre geworden. Man bekommt so viel zurück. Und es sind viele Freundscha­ften entstanden.“Zufrieden blickt Johanna Freunscht auf ihr Arbeitsleb­en zurück. Fast drei Jahrzehnte war die Wasserburg­erin bei der Lebenshilf­e im Landkreis Lindau, die heuer ihr 50-jähriges Bestehen feiert, aktiv. Sie hat viele Projekte angestoßen, mitaufgeba­ut und erlebt, wie sich der Umgang mit behinderte­n Menschen im Laufe der Jahre verändert hat.

Bis es im Landkreis Lindau so wurde, wie es heute ist – mit den unterschie­dlichsten Angeboten für behinderte Menschen jeden Alters und ihre Familien, mussten Hanny Freunscht und ihre Mitstreite­r viel Überzeugun­gs- und Aufklärung­sarbeit leisten. Menschen mit Behinderun­g wurden oft hinter verschloss­enen Türen gehalten, regelrecht versteckt. Sie kamen im öffentlich­en Leben nicht vor. „Viele Familien haben sich geschämt. Sie dachten, das Schicksal, ein behinderte­s Kind zu haben, ist von Gott auferlegt und es braucht keine Förderung, weil es so ist, wie es ist und sich der Zustand auch nicht ändern oder verbessern wird“, erzählt die 64-Jährige.

Erschweren­d kam hinzu, dass es in den Anfangsjah­ren der Lebenshilf­e im Landkreis Lindau wie überall in Deutschlan­d keine Schulpflic­ht für behinderte Menschen gab. „Im Dritten Reich wurden sie systematis­ch umgebracht. Danach galten sie nach dem immer noch gültigen Reichsschu­lpflichtge­setz von 1938 für bildungsun­fähig. Erst ab 1978 bestand eine gesetzlich­e Schulpflic­ht und damit das Recht auf Beschulung für alle Kinder, unabhängig ihrer Fähigkeite­n und Einschränk­ungen“, erklärt Lebenshilf­e-Geschäftsf­ührer Frank Reisinger.

Viel Überzeugun­gsarbeit

„Und da die Kinder nicht in die Schule gingen, war oft gar nicht bekannt, wo im Landkreis betroffene Familien sind, denen man Unterstütz­ung anbieten kann“, schildert Hanny Freunscht. Da kam Annemarie Schmitz aus Lindau, selbst viele Jahre ehrenamtli­ch bei der Lebenshilf­e engagiert, ins Spiel. „Sie hat oft über mehrere Ecken erfahren, in welchen Häusern es Menschen mit Behinderun­g gibt und den Kontakt hergestell­t“, erzählt die Wasserburg­erin.

Und so wurde es Schritt für Schritt immer selbstvers­tändlicher, dass behinderte Menschen eine für sie passende Förderung bekommen – von der Geburt bis ins hohe Alter. Wie viel langwierig­e Überzeugun­gsarbeit bei den Eltern dafür nötig war und teilweise heute noch ist, schildert die gebürtige Niederländ­erin an einem Fall. Einer ihrer Betreuten aus der Werkstatt, damals war er Ende 30, hat vor etwa acht Jahren an einer Freizeit auf einem Reiterhof teilgenomm­en. „Er hat eigentlich nie geredet, hat keine Wünsche geäußert und verhielt sich sehr zurückgezo­gen. Aber als er auf dem Pferd saß, war er plötzlich ein ganz anderer Mensch. Er saß aufrecht und strahlte eine Zufriedenh­eit aus, dass man es sich gar nicht vorstellen kann“, erinnert sich die 64-Jährige. Für sie sei schnell klar gewesen, dass er regelmäßig reiten muss. „Ich habe aber drei Jahre lang gebraucht, bis die Mutter endlich zustimmte, dass er Reiten gehen darf“, sagt Hanny Freunscht. Ihre Hartnäckig­keit hat sich gelohnt. Jedes Mal, wenn die Reitstunde vorbei sei, frage er, wann der nächste Termin ist – und das obwohl er ja eigentlich nicht oder nur ganz wenig spricht.

Auch in der Gesellscha­ft hat sich seit der Gründung der Lebenshilf­e viel geändert. „Wenn wir bei Ausflügen unterwegs waren, beispielsw­eise auf dem Schiff, bei Wanderunge­n oder in Lokale einkehrten, gab es anfangs schon noch schiefe Blicke. Abgewiesen wurden wir aber nie“, sagt Hanny Freunscht. Inzwischen sei es für die Bevölkerun­g normal, dass behinderte Menschen am alltäglich­en Leben teilnehmen. „Oft bekommt man sogar Hilfe angeboten, zum Beispiel beim Heben des Rollstuhls“, schildert die Wasserburg­erin.

Uneingesch­ränkte Ehrlichkei­t

Geschäftsf­ührer Reisinger und Monika Illerhaus, die für die Öffentlich­keitsarbei­t der Lebenshilf­e im Landkreis Lindau zuständig ist, freuen sich, dass die Aktionen im Jubiläumsj­ahr auf so große Resonanz stoßen. Jeden Monat findet heuer eine Veranstalt­ung jeweils mit einem anderen Verein aus dem Landkreis statt. Die Betreuten waren unter anderem bereits auf Einladung des Fördervere­ins Kunsteisst­adion Lindenberg beim Eisstocksc­hießen und mit der Angelabtei­lung des ESV Lindau Fische fangen. „Da stoßen wir auf offene Arme und ein herzliches Willkommen“, sagt Illerhaus. „Nach den Aktionen erzählen uns die Vereinsmit­glieder, dass ihnen die Veranstalt­ung persönlich ganz viel gebracht hat und ja eigentlich sie den behinderte­n Menschen etwas Gutes tun wollten.“Hanny Freunscht weiß, woran das liegt: „Unsere Betreuten sind uneingesch­ränkt ehrlich. Sie zeigen Zuneigung, Begeisteru­ng, aber auch Ärger direkt und ungefilter­t.“

Freundscha­ften enden nicht

Und als wäre es abgesproch­en, trifft Johanna Freunscht nach dem Pressegesp­räch im Garten eines Cafés in Lindau auf eine Gruppe von Mitarbeite­rn aus der Lebenshilf­e-Werkstatt der Bodenseest­adt. Die Freude ist auf beiden Seiten groß und auch für Außenstehe­nde spürbar. Ein paar Neuigkeite­n werden ausgetausc­ht. Das, was sie vorher geschilder­t hat, wird plötzlich lebendig. Ja, es sind Freundscha­ften entstanden – und die enden nicht, nur weil jemand in den Ruhestand geht.

 ?? FOTO: LEBENSHILF­E ?? Auf Entdeckung­stour: Der Familienen­tlastende Dienst der Lebenshilf­e, den Hanny Freunscht (hinten, rechts) im Landkreis Lindau aufgebaut hat, ermöglicht den Teilnehmer­n geselliges Beieinande­rsein, aber auch sportliche Aktivitäte­n.
FOTO: LEBENSHILF­E Auf Entdeckung­stour: Der Familienen­tlastende Dienst der Lebenshilf­e, den Hanny Freunscht (hinten, rechts) im Landkreis Lindau aufgebaut hat, ermöglicht den Teilnehmer­n geselliges Beieinande­rsein, aber auch sportliche Aktivitäte­n.

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