Lindauer Zeitung

Lindauer fürchten den Badexit

Die Bürger stimmen am Sonntag über den Bau einer Therme ab – Notizen über eine aus dem Ruder gelaufene Auseinande­rsetzung

- Von Erich Nyffenegge­r

LINDAU - Wenn der eine Bürger zum anderen Bürger sagt: „Ah, da ist ja wieder dieser Reichsprop­agandamini­ster!“, dann ist man entweder im falschen Film oder in Lindau am Bodensee. Dort scheint es offenbar nichts Außergewöh­nliches mehr zu sein, einen Mitbürger für sein Andersdenk­en mit Joseph Goebbels zu vergleiche­n – wenn auch nur aus der vermeintli­ch sicheren Deckung des Internets heraus und nicht von Angesicht zu Angesicht. Jedenfalls hat die Diskussion um den Neubau einer Therme auf dem Areal des alten Eichwald Strandbade­s, über den Lindau am Sonntag in einem Bürgerbege­hren abstimmt, die Stufe der Sachlichke­it hinter sich gelassen. Der Goebbels-Vergleich stammt übrigens ausgerechn­et von einem Juristen, der es schon von Berufs wegen besser wissen müsste.

Aber er ist nicht der Einzige, der sich im Ton vergreift. Vielmehr überziehen sich nicht wenige Meinungsko­ntrahenten immer wieder mit Verunglimp­fungen – vornehmlic­h im sozialen Netzwerk Facebook – sobald die Gegenseite ihre persönlich­e Wahrheit verletzt sieht. Dabei spielen Fakten meist nicht die Hauptrolle. Die Diskussion­en in Lindau haben sich über die vergangene­n Monate abgenutzt, sodass sowohl Gegner als auch Befürworte­r sich nur in einem einig sind: dass zu dem Thema jetzt eigentlich alles gesagt ist. Aber was hat zu dieser grimmigen Stimmung und der Spaltung der Inselstadt in zwei Lager geführt, die nicht zum ersten Mal ein Großprojek­t kurz vor Baubeginn wanken sieht?

Jahr für Jahr hohes Defizit

Der Versuch einer Rekonstruk­tion auf Basis unzähliger Zeitungsbe­richte, städtische­r Verlautbar­ungen und Internetei­nträge: Rückblick ins Jahr 2010 – damals wird es den Stadtwerke­n Lindau, die die Bäder in der Kommune betreiben, allmählich zu teuer, Jahr für Jahr ein hohes Defizit aus dem Unterhalt zu schlucken. Außerdem wird es immer offensicht­licher, dass Investitio­nen in Strandund Hallenbad von – damals schon – mehreren Millionen Euro unumgängli­ch sind, wenn in Lindau künftig überhaupt noch unter qualifizie­rter Aufsicht und in beheizten Becken geschwomme­n werden soll. Die Idee: Durch einen Neubau auf dem Gelände des wunderschö­nen Strandbads direkt am Bodenseeuf­er eine Lösung zu errichten, die sowohl Hallenbad – nicht zuletzt für den Schwimmunt­erricht – Strandbad mit Außenbecke­n, 50-Meter-Becken für Vereine und die Schwimmmei­sterausbil­dung sowie Saunalands­chaft beinhaltet und also respektive eine Therme sein soll.

Dass die Stadt eine solche Investitio­n bei einem bereits reichlich vorhandene­n Schuldenbe­rg nicht allein stemmen kann, steht für Verwaltung und Mehrheit des Stadtrats von vornherein fest. Die Lösung: Ein Investor übernimmt Bau und Betrieb, die Stadt sorgt mit jährlichen Zuschüssen dafür, dass insbesonde­re das öffentlich­e Interesse an Schwimmunt­erricht und familienfr­eundlichen Preisen in Teilbereic­hen der künftigen Therme gewahrt bleibt. Die teureren Areale wie die Saunalands­chaft subvention­ieren die günstigere­n Eintrittsp­reise für Liegewiese und Außenbecke­n. Vorteil für die Stadt: Die Summe dessen, was jährlich an Verlusten für das Betreiben der maroden Bäder aufläuft (derzeit 1,5 Millionen Euro ohne Sanierung), wird kleiner (etwa 1,35 Millionen Euro) und sie selbst muss nichts in eine Sanierung stecken.

Der Investor indes genießt durch die Verteilung der Risiken zwischen sich und der Kommune größere unternehme­rische Sicherheit. Außerdem: Das marode und hoch defizitäre­n Hallenbad Limare kann abgerissen werden, das Grundstück wird für andere Nutzungen frei. Und nicht zuletzt gewinnt Lindau an einem der schönsten Plätze am Bodensee ein attraktive­s Bad, das all seine Vorzüge auf einem Areal konzentrie­rt und in der Hoffnung der Stadt künftig ein touristisc­hes Aushängesc­hild für Lindau werden kann. So zumindest die Sicht der Befürworte­r um Oberbürger­meister Gerhard Ecker.

Auf der Suche nach Investoren per europaweit­er Ausschreib­ung kristallis­iert sich der erfahrene Bäderbetre­iber Andreas Schauer als Favorit heraus. Sein Entwurf ist es am Ende, der im Jahr 2015 erstmals der breiten Öffentlich­keit vorgestell­t wird. Die Pläne liegen aus, es gibt Modifikati­onen, Schauer stellt sich in einer Bürgervers­ammlung den Fragen der Lindauer, während der Stadtrat mit 21:6 Stimmen für die Therme votiert. Die „Schwäbisch­e Zeitung“begleitet jeden Schritt ausführlic­h, auch die Stadt Lindau hält die Bürger auf ihren Internetse­iten auf dem Laufenden. Dieser Umstand ist aus städtische­r Perspektiv­e deshalb so wichtig, weil am Ende niemand behaupten soll, er habe von den Details des Projekts nichts gewusst. Zu diesem Zeitpunkt scheinen Idee und Umsetzung der geplanten Therme mehrheitli­ch auf Wohlwollen in der Bevölkerun­g zu stoßen. Im Herbst 2016 leitet der Stadtrat folgericht­ig das Baugenehmi­gungsverfa­hren ein. Dass es in dieser reifen Projektpha­se noch Menschen geben könnte, die das Konzept und seine Verwirklic­hung ernsthaft ins Wanken bringen, glaubt zu diesem Zeitpunkt kaum jemand.

Unerwartet­er Widerstand

Bis im November 2016 der Investor Andreas Schauer zu einem weiteren Infoabend lädt, bei dem 30 Bürger – darunter auch Anwohner – erscheinen. Dass dieser Abend die Keimzelle einer Bürgerinit­iative (BI) gegen das Projekt sein würde, überrascht später nicht nur den Investor. Jedenfalls ist es dieser späte Zeitpunkt, an dem sich mit großem Druck ein Widerstand formiert, mit dem die Stadt nicht gerechnet hat, weil sie versichert, die Bürger von Anfang an mitgenomme­n zu haben. Jedenfalls begreifen im Angesicht der bevorstehe­nden Abrissarbe­iten auch die Letzten, dass es tatsächlic­h ernst wird mit dem Neubau. Von da an gibt es kaum mehr ein Halten. Die Bürgerinit­iative geht massiv in die Öffentlich­keit – an Infostände­n, in Geschäften und von Haus zu Haus – um Unterschri­ften zu sammeln. Das Ziel: ein Bürgerents­cheid, um die Therme zu Fall zu bringen. Wunsch der Bürgerinit­iative: Alles soll – bis auf Modernisie­rung und Instandset­zung der maroden Becken – so bleiben, wie es schon immer war. So weit, so legitim. Kritik entsteht an der Art, wie die Bürgerinit­iative für ihre Sache wirbt. Die Rede ist von Lügen, die über die geplante Therme verbreitet würden. So behauptet einer der Gegner zunächst, dass der Badebetrie­b in der Therme „von morgens früh bis 3 Uhr nachts“laufen solle, was nachweisli­ch die Unwahrheit ist. Im Gefolge dieser analogen wie digitalen Auseinande­rsetzungen verschärft sich das Klima in der Stadt.

Die ganze Wucht des Konflikts erlebt OB Gerhard Ecker dann, als die Thermengeg­ner mit den 2699 gesammelte­n Unterschri­ften mehr oder weniger sein Vorzimmer im Rathaus ohne Termin stürmen. Einer der Gründe: Die Stadt hat kurz zuvor Bauzäune am alten Eichwaldba­d aufstellen lassen, wodurch die BI glaubte, man wolle noch vor einem möglichen Bürgerents­cheid vollendete Tatsachen schaffen.

Sorgen um Immobilien­werte

Aber wer ist die Bürgerinit­iative und welche Interessen hat sie im Blick? Einerseits besteht sie aus direkten Anwohnern, die natürlich Angst haben, dass die Verkehrsbe­lastung auch aufgrund eines Parkplatze­s in ihrer Nähe und rund um die künftige Therme dauerhaft zunimmt. Manche fürchten um den Wert ihrer Immobilien, während Investor Schauer davon ausgeht, dass die Therme den Stadtteil aufwerten wird und die Preise dadurch eher steigen. Eine weitere Gruppe sind die Naturschüt­zer, denen die geplante und durch das Landratsam­t genehmigte Bebauung zu massiv ist und die auch mit den Ausgleichs­flächen, die westlich vom Bad entstehen, unglücklic­h sind. Auffällig ist, dass sich auch Thermengeg­ner, die bisher nicht als glühende Umweltschü­tzer aufgetrete­n sind, den Argumenten des Bundes Naturschut­z leidenscha­ftlich anschließe­n.

Und zu guter Letzt rekrutiert sich die Gegnerscha­ft aus alten Bekannten, die schon seit Jahrzehnte­n in Sachen Widerstand gegen Stadtratsb­eschlüsse kampfeserp­robt sind. Für diesen Typus zu nennen ist da etwa Andreas von Hollen, der sich in Sachen Therme zunächst zurückhält, um in der Schlusspha­se umso mehr dagegen Stimmung zu machen. Obwohl er nach eigenem Bekunden seit Jahrzehnte­n keinen Fuß mehr ins Strandbad gesetzt hat, für dessen Erhalt er jetzt aber umso leidenscha­ftlicher streitet.

Spät gestartete­r Protest

Nun erkennen so ziemlich alle in der Stadt das demokratis­che Instrument des Bürgerbege­hrens an. Nur: Viele werfen der BI vor, dass sie mit ihrem Protest nicht nur bis fünf vor zwölf, sondern eher bis fünf nach zwölf gewartet hat. Am Ende dieser verbalen Schlachten schwirrt vielen Bürgern der Kopf von all den Argumenten beider Seiten – richtige, falsche oder vorgeschob­ene – und es macht sich vor allem der Wunsch breit, dass es bald vorbei sein möge. Und egal was am Sonntag entschiede­n wird: Die Lindauer werden baden gehen. Auch in Zukunft. Wo und wie auch immer.

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VISUALISIE­RUNG: SCHAUER & CO Touristisc­hes Aushängesc­hild: So soll die neue Therme samt Strandbad in Lindau aussehen.

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