Lindauer Zeitung

„Es geht um Strategien, nicht Strukturen“

Österreich­s Finanzmini­ster Hans Jörg Schelling über Chancen der weiteren EU-Integratio­n

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BREGENZ - Er ist der Manager im österreich­ischen Kabinett: Finanzmini­ster Hans Jörg Schelling war fast 15 Jahre Vorstandsc­hef des österreich­ischen Einrichtun­gshauses XXLLutz. Er war Vizepräsid­ent der Wirtschaft­skammer Österreich und Vorsitzend­er des Hauptverba­ndes der Sozialvers­icherungst­räger, bevor er im Jahr 2014 zum Finanzmini­ster berufen wurde. Nächstes Jahr übernimmt Österreich den Vorsitz im Rat der Europäisch­en Union. Benjamin Wagener, Andreas Knoch und Sonja Schlingens­iepen, Redakteuri­n der „Neuen Vorarlberg­er Tageszeitu­ng“, haben den 63-Jährigen in Bregenz getroffen und sich mit ihm über die neue Europabest­rebungen in Frankreich und Deutschlan­d unterhalte­n.

Paris und Berlin propagiere­n einen neuen europäisch­en Aufbruch. In Frankreich bekennt sich der Präsident zu einem europäisch­en Finanzmini­ster, einem Haushalt für die Eurozone und plädiert für gemeinsame Standards in der Wirtschaft. Ist das der richtige Weg?

Frankreich ist ein Land, das im Hinblick auf Strukturre­formen den größten Nachholbed­arf hat. Daher ist es wichtig, dass ernsthaft darüber nachgedach­t wird, was getan werden kann, damit diese große Volkswirts­chaft die Maastricht-Regeln wieder einhält. Ein zweiter Punkt dreht sich um die Gestaltung Europas. Meiner Ansicht nach neigt die Politik generell dazu, über Strukturen, aber nicht über Strategien zu diskutiere­n.

Wie sieht Ihre Strategie aus?

Die Strategie ist auf die Big Points auszuricht­en. Die nächste Regulierun­g für die Wattzahl von Glühbirnen wird niemandem weiterhelf­en. Es muss um Wachstum und Beschäftig­ung gehen. Das ist ein Punkt, den Europa braucht, um wettbewerb­sfähig zu sein. Die zweite Frage ist, wie die Herausford­erungen, die die Digitalisi­erung mit sich bringt, europaweit gelöst werden. Dann gibt es die Punkte innere und äußere Sicherheit, Globalisie­rung, Klimawande­l und Klimaschut­z.

Würde im Hinblick auf diese zu erarbeiten­den Strategien ein europäisch­er Finanzmini­ster helfen?

Was soll er tun? Bekommt er die Hoheit über die nationalen Budgets? Das glaubt doch wohl nicht jemand ernsthaft. Die Hoheit über ein Europa-Budget wird ihm das Parlament verweigern. Dann bleibt noch die Frage, ob ein Finanzmini­ster statt der Kommission die Regeln überwachen soll. Unterm Strich halte ich es nicht für sinnvoll, einen permanente­n Finanzmini­ster zu installier­en, wenn er keine klaren Regeln und Befugnisse hat. Dazu kommt, dass alle Länder zustimmen müssen. Derzeit will die Mehrheit der Länder keinen permanente­n Finanzmini­ster haben. Vielleicht ändert sich das, wenn ein konkretes Konzept vorliegt.

Was wäre denn Ihr Vorschlag, um die von Ihnen genannten Big Points umzusetzen?

Ich werde dieses Thema aktiv angehen. Österreich hat ja die übernächst­e Präsidents­chaft im zweiten Halbjahr 2018. Die genannten Punkte sollen ausformuli­ert und auch die Wirkungen auf Wirtschaft- und Währungsun­ion geprüft werden. Ein Beispiel: Wenn Europa nicht bereit ist, eine einheitlic­he Definition für eine digitale Betriebsst­ätte zu erzeugen, dann wird Europa untergehen, was die Besteuerun­g digitaler Betriebsst­ätten angeht. Die großen Steuerprob­leme sind ja nicht erst mit Panama Leaks aufgetauch­t. Diese Probleme gibt es ja schön länger mit Irland, Holland, Malta, Zypern, Luxemburg und anderen Ländern.

Was werden Sie tun?

Grundsätzl­ich geht es darum, angefangen­e Aufgaben zu erledigen. Es muss überlegt werden, welche Aufgaben die Eurogruppe im Verhältnis zu den Ländern hat, die der Währungsun­ion nicht angehören.

Es scheint aber, dass die Umsetzung der Aufgabenli­ste an den jetzigen Strukturen scheitert.

Es scheitert an den Verträgen. Es ist schwierig, weil in fast allen Materien Einstimmig­keit gefordert ist. So wird seit mehreren Jahren versucht, nur die Bemessungs­grundlage für die Körperscha­ftsteuer zu vereinheit­lichen, nicht den Steuersatz. Und selbst das gelingt nicht.

Wie schwer war es für Sie, von der Wirtschaft in die Politik zu wechseln? In der Wirtschaft hatten Sie es nicht mit so veränderun­gsresisten­ten Strukturen zu tun.

Es gibt wirklich Tage, an denen der Eindruck entsteht, dass nichts weitergeht. Ich habe aber den Vorteil, dass ich zuvor in zwei Institutio­nen verantwort­lich tätig war, in denen die Prinzipien ähnliche sind. Ich war Vizepräsid­ent der Wirtschaft­skammer, in der jetzt nicht gerade die Überdynami­k herrscht. Und Präsident des Hauptverba­nds der Sozialvers­icherungst­räger, die hochsozial­partnersch­aftlich organisier­t sind.

Das bedeutet?

Wer aus der Wirtschaft kommt, arbeitet sehr lösungsori­entiert. Ein Problem wird erkannt. Ist die Ursache gefunden, werden drei Lösungen zur Bekämpfung überlegt. Dann fällt die Entscheidu­ng über die Vorgehensw­eise – und marsch, gemma. Wer in einer Organisati­on und Struktur arbeitet, ist auch lösungsori­entiert, muss aber erkennen, dass es eine Prozessori­entierung gibt.

 ?? FOTO: KLAUS HARTINGER ?? Österreich­s Finanzmini­ster Hans Jörg Schelling: „Die nächste Regulierun­g für die Wattzahl von Glühbirnen hilft niemandem weiter.“
FOTO: KLAUS HARTINGER Österreich­s Finanzmini­ster Hans Jörg Schelling: „Die nächste Regulierun­g für die Wattzahl von Glühbirnen hilft niemandem weiter.“
 ?? FOTO: KLAUS HARTINGER ?? Schelling im Gespräch mit Benjamin Wagener (von links), Sonja Schlingens­iepen und Andreas Knoch.
FOTO: KLAUS HARTINGER Schelling im Gespräch mit Benjamin Wagener (von links), Sonja Schlingens­iepen und Andreas Knoch.

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