Lindauer Zeitung

Ein Totentanz aus dem wilden Osten Amerikas

- Von Birgit Kölgen

Ehrlich gesagt: Dieses gewaltige Buch lag einige Monate auf meinem Nachttisch, ich konnte es kaum bewältigen. Man hat im Alltag einfach nicht genug Muße für ein Epos von rund 900 Seiten. Aber: Es ist die ideale Lektüre für die Ferien, wenn der pflichtbef­reite Mensch im Liegestuhl sitzt und sich endlich mal wieder tief in ein literarisc­hes Abenteuer versenken kann. Annie Proulx, die große nordamerik­anische Erzählerin, fordert unsere ganze Aufmerksam­keit. Zehn Jahre lang hat die 82-Jährige an ihrem Roman über 300 Jahre Raubbau in der Neuen Welt gearbeitet. Dabei verbindet die Autorin, die durch den Roman „Schiffsmel­dungen“berühmt wurde, penible historisch­e Recherche mit ihrer Liebe zur Natur und ihrem Gefühl für die Wucht des Schicksals.

„Aus hartem Holz“sind die Wälder und die Charaktere, die Proulx lebendig werden lässt. Sie beginnt mit zwei französisc­hen Auswandere­rn, die 1693 ihre Chance in den Urwäldern von Neufrankre­ich, dem heutigen östlichen Kanada, suchen. Der zahnlose Charles Duquet will sich nicht ausbeuten lassen – er flieht, macht sein erstes Geld mit Fellen und gründet in Boston ein eigenes Holzimperi­um: Duke & Sons. René bleibt ein armer Holzfäller, erwirbt durch Schufterei ein Stückchen Land, heiratet eine Indianerin.

Annie Proulx folgt den Spuren der beiden Männer und ihrer Kinder und Kindeskind­er bis in die Gegenwart. Sie führt den Leser in die Dörfer der Mi’kmaq, die Salons der Emporkömml­inge, die Bordelle von Montreal. Sie trauert um die abgeholzte­n Wälder, die sich bis zum heutigen Tage nicht erholen konnten. Und sie berichtet kühl und detaillier­t von den Unfällen, Krankheite­n und Katastroph­en, denen die abgeracker­ten Glücksjäge­r zum Opfer fallen. Ja, die Geschichte­n sind auch ein Totentanz aus dem wilden Osten von Amerika. Und am Ende, wenn die Zivilisati­on vermeintli­ch gesiegt hat, schmelzen die Polkappen. Ein atemberaub­endes Buch!

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