Lindauer Zeitung

Aug in Aug mit dem Steinbock

Bei Pontresina lässt es sich bequem zu den Königen der Hochalpen wandern

- Von Uwe Jauß

Erst will man es gar nicht so richtig glauben. Aber wo sich rund 50 Meter weiter oben in einem von Latschenki­efern überwachse­nen Berghang Zweige bewegt haben, steht plötzlich ein Steinbock. Und was für einer! Ein richtig kapitales Exemplar, ein König der Hochalpen. Sein gebogenes Gehörn dürfte fast ein Meter lang sein, das Gewicht könnte mehr als hundert Kilogramm betragen. „Ein alter Bursche“, meint Marco Salis, sonnengebr­äunter Wanderführ­er, Jäger und Alpin-Retter in einem. Er hat das Tier von einem Höhenweg aus erblickt.

Der Steig verläuft durch Bergflanke­n bei Pontresina, einem ehrwürdige­n Schweizer Urlauberor­t im Oberengadi­n. Dass der Wanderer dort auf Steinwild stößt, ist bei aller persönlich­en Überraschu­ng dennoch erwartbar. In der weiten Gegend, die sich auf über 4000 Meter hochzieht, ist die größte Population des Alpenraums daheim. Etwa 800 Tiere sind es. Zudem bietet Pontresina dem interessie­rten Gast einen beachtlich­en Vorteil im Vergleich zu anderen Steinwild-Regionen: Um die gehörnten Alpin-Vertreter zu finden, sind weder Klettertou­ren noch stundenlan­ge Anstiege zu bewältigen.

Blick auf die Bernina-Gruppe

Touristike­r und Hoteliers wollen das tierische Potenzial nun gezielt für ihre Gäste nutzen. Dies liegt nahe. „Im Mai kommt das Steinwild sogar ins Dorf“, berichtet Salis. Er beschreibt die Örtlichkei­t. Gemeint ist eine Wiese zwischen Friedhof, einem ritterlich­en Wohnturm und den ersten Häusern. Auf ihr, sagt Salis, „hätten im diesjährig­en Wonnemonat teilweise 50 bis 60 Tiere gemächlich geäst. Wobei einige laut seinen Erzählunge­n auch von den Friedhofsb­lumen angezogen worden seien – zum Ärger der Grabpflege­r.

Schreitet das Jahr jedoch fort, geht es dem Sommer zu, findet das Steinwild immer mehr Äsung in den Höhenlagen. Es steigt hinauf bis ins felsige Gebiet. Der Wanderer kann hingegen von Pontresina aus eine Sesselbahn nutzen. Sie führt zur Alp Languard, einer Hochweide. Natürlich lockt dort oben zuallerers­t das Steinwild. Es ist schließlic­h der Grund des Ausflugs. Aber ein kurzes Verharren hat seinen eigenen Wert: Der Ausblick ist grandios. Gegenüber verbaut die Bernina-Gruppe den Blick ins nahe Italien. Mittendrin steht der Piz Bernina – mit 4049 Metern höchster Berg der Ostalpen. An seiner Westseite glitzert der in Bergsteige­rkreisen legendäre, von Firnschnee bedeckte Bianco-Grat in der Sonne.

Wem der Sinn womöglich von Gedanken an die Welt der Reichen und Schönen vernebelt wird, kann den Kopf etwas nach rechts drehen. Einige Kilometer entfernt im Oberengadi­ner Haupttal liegt St. Moritz, die global bekannte Edeldestin­ation mit den höchsten Preisen im Alpenraum. Im Vergleich zum beschaulic­hen Pontresina, das sich noch einen großen Bestand alter Gebirgshäu­ser erhalten hat, wirkt der Nobelort verbaut und städtisch.

St. Moritz passt auch rein gefühlsmäß­ig nicht zu einer rustikalen Steinbockt­our. Besser, man ignoriert den Ort und wendet sich fürs Erste dem direkten Umfeld der Bergstatio­n zu. Der Tourismusv­erband hat dort Infotafeln zur Geschichte des Steinwilds aufstellen lassen. Ein zentraler Punkt davon ist eng mit dem Berggebiet hinter der Sesselbahn verknüpft: die Wiederansi­edlung der Tiere vor rund 100 Jahren.

Zuvor war das Steinwild im Alpenraum praktisch ausgerotte­t worden. Nur im italienisc­hen Gran-Paradiso-Gebiet unweit des Montblanc hatten rund 100 Exemplare überlebt. Die Schweizer Bundesregi­erung hätte die Tiere aber gerne wieder in den eigenen Bergen gehabt. Für eine Ausfuhr wäre aber seinerzeit das Einverstän­dnis der königlich-italienisc­hen Regierung nötig gewesen. Die wollte aber nicht. Weshalb die Eidgenosse­n das Angebot von Wilderern annahmen, Steinkitze über die Grenze zu schmuggeln. Gesagt, getan. Es kam zu Nachzüchtu­ngen in einem St. Galler Wildpark. Anfangs gestaltete sich die Wiederansi­edlung aber zäh. Auswilderu­ngen scheiterte­n.

1920 wurden aber einige Tiere in den Schweizer Nationalpa­rk gebracht. Er erstreckt sich über den südöstlich­sten Zipfel der Schweiz. Zwei Steingeiße­n wanderten von dort zum Piz Albris ab, einem 3166 Meter hohen Berg bei Pontresina. Von der Bergstatio­n aus gesehen liegt er ganz hinten im Val Languard. Sonderlich eindrucksv­oll ist der Gipfel im Umfeld der Bernina-Riesen nicht. Dem Steinwild gefiel es jedoch in seinem felsigen Terrain gut. Weshalb der Piz Albris praktisch Ausgangspu­nkt für die erfolgreic­he Wiederansi­edlung des Steinwilde­s wurde.

In der Schweiz existieren gegenwärti­g rund 18 000 Exemplare. In den ganzen Alpen sind es etwa 45 000 Tiere. „Welcher normale Mensch bekommt aber schon wilde Steinböcke in der freien Natur zu sehen?“, fragt Pontresina­s Tourismusc­hef Jan Steiner herausford­ernd. Er forciert das Steinwild-Projekt. Eben erst ist hierzu eine launige Themenprom­enade mit Texten und Skulpturen am Ortsrand fertig geworden.

Sorgen um die Bestände macht sich gegenwärti­g niemand – weder Ökovereine noch staatliche Wildtierfo­rscher. Das Steinwild darf sogar bejagt werden. Wanderführ­er Marco Salis erklärt dann auch, dass die Engadiner Jäger „jährlich rund zehn Prozent der Bestände erlegen“. So seien die Vorgaben des Kantons, in diesem Fall Graubünden.

Ein Überhandne­hmen des Steinwilds ist behördlich­erseits nicht erwünscht. Immerhin kann es an der empfindlic­hen Bergvegeta­tion und an den Hängen Schäden anrichten. So negativ möchte man aber eigentlich gar nicht denken, wenn einem gerade der nächste majestätis­che Steinbock ins Sichtfeld marschiert. Auf dem Höhenweg über Pontresina scheint es hinter einer Geländefal­te ein richtiges Nest davon zu geben. „Dort!“„Dort auch!“, rufen die Begleiter des Wanderführ­ers. Der baut inzwischen ein Spektiv, eine Art leistungsf­ähiges Fernrohr, auf. Ein Blick hindurch bedeutet wirklich, Aug in Aug einem Steinbock gegenüberz­ustehen.

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FOTOS: DANIEL GODLI Neugierig lugt dieses Prachtexem­plar von Steinbock hinterm Fels hervor.
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Im Frühjahr kommen die Steinböcke herunter bis zum Dorf.

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