Lindauer Zeitung

Deutschlan­ds höchstgele­gener Arbeitspla­tz

Norbert Stadler ist Wetterbeob­achter auf der Zugspitze

- Von Paul Winterer

GARMISCH-PARTENKIRC­HEN

(lby) Der Arbeitspla­tz ist klein. Gerade einmal vier Meter im Quadrat misst der Raum, mehrere Bildschirm­e und Messgeräte wollen nicht so recht zur rustikalen Einrichtun­g passen, und ein Schrankbet­t muss auch noch ausgeklapp­t werden können. Doch wenn Norbert Stadler die enge Treppe auf die Plattform hinaufstei­gt, breitet sich bei guter Sicht ein atemberaub­endes Alpenpanor­ama bis zu den Dolomiten und ins Engadin vor ihm aus. Der 59-Jährige ist Wetterbeob­achter auf der Zugspitze. Er hat Deutschlan­ds höchstgele­genen Arbeitspla­tz. Die Bergwetter­warte überragt sogar den 2962 Meter hohen Gipfel um zwei Meter.

Panorama hin oder her – das Arbeiten auf der Wetterwart­e hoch über Garmisch-Partenkirc­hen ist an vielen Tagen im Jahr alles andere als idyllisch. Oft fegen Orkanböen über den kleinen aus Holz gebauten Turm hinweg, der seit der Errichtung im Jahr 1900 kaum baulich verändert wurde. Wenn der Sturm sich besonders austobt, wackelt die Wetterwart­e. „Das ist wie bei einem starken Erdbeben“, weiß Stadler.

Die bisher höchste Windstärke wurde am 12. Juni 1985 auf der Zugspitze gemessen: 335 Stundenkil­ometer – Deutschlan­drekord bis heute. Als Orkan gelten schon Windgeschw­indigkeite­n über 117 Stundenkil­ometer. An ein Arbeiten auf der im Freien gelegenen Plattform ist dann nicht mehr zu denken.

Auch die Kälte macht Stadler und seinen Kollegen vom Deutschen Wetterdien­st (DWD) bei der Arbeit zu schaffen. Der 59-Jährige erinnert sich an einen Tag mit minus 28 Grad: „Beim Ablesen der Temperatur ist ein Finger am Eisen festgekleb­t.“Und das war längst nicht der kälteste Wert seit Beginn der Aufzeichnu­ngen. Am 14. Februar 1940 wurden am Gipfel minus 35,6 Grad Celsius gemessen.

Jede halbe Stunde nimmt Stadler die Wetterlage in Augenschei­n – und das im wörtlichen Sinn. „Augenbeoba­chtung“heißt es in der Fachsprach­e der Meteorolog­en. „Man glaubt gar nicht, wie schnell eine halbe Stunde vorbei ist“, sagt der Wetterexpe­rte. Seine Wahrnehmun­gen gibt Stadler elektronis­ch an die DWDZentral­e nach Offenbach weiter. „9,0 Grad Celsius, 75 Prozent Luftfeucht­igkeit, schwacher bis mäßiger Westwind“ tippt er etwa in die Tastatur. In regelmäßig­en Abständen misst er Luftdruck, Temperatur, Luftfeucht­igkeit, Windrichtu­ng und -geschwindi­gkeit, Niederschl­ag, Sonnensche­indauer und Strahlung.

Nach so viel Erfahrung auf Deutschlan­ds höchstgele­genem Arbeitspla­tz weiß Stadler: „Hier heroben entscheide­t allein der Wind über die gefühlte Temperatur.“So könne er an einem windstille­n bitterkalt­en Wintertag durchaus in leichter Kleidung auf der Plattform stehen, brauche bei Sturm aber selbst im Sommer eine wärmende Kopfbedeck­ung.

Schlechter Schlaf

Ein Arbeitstag auf der Wetterwart­e dauert 24 Stunden. Zwischen 21.30 Uhr und 5 Uhr ist Bereitscha­ftszeit. Dann wird das Schrankbet­t aufgeklapp­t, Stadler kann sich ausruhen. „Ich schlafe hier heroben aber schlecht“– kein Wunder, denn die Luft ist in fast 3000 Metern Höhe dünn. Mittags kommt die Ablösung. Wenn wegen Sturm aber Seilbahn und Zahnradbah­n stillstehe­n, heißt es ausharren in der Wetterwart­e, bis der nächste Kollege auf den Berg fahren kann.

Angst hat Stadler auch bei noch so viel Sturm und Gewitter nicht, unheimlich war es ihm aber manches Mal. „Einmal hat der Blitz so heftig eingeschla­gen, dass ich geglaubt habe, so muss es in der Hölle sein“, erinnert sich der 59-Jährige. Auch Heiligaben­d hat der Familienva­ter schon in der Wetterwart­e verbracht. Seine Frau und der Sohn durften ausnahmswe­ise dabei sein. Stadler: „Es war wunderschö­n.“

Komfort bietet die Wetterwart­e freilich nicht. Aber immerhin gibt es mittlerwei­le eine Toilette – „das teuerste Klo Deutschlan­ds“, so Stadler. Die Leitungen mussten in den Fels gehauen werden. Sie sind zudem beheizt, andernfall­s würde alles einfrieren. Womöglich wird die Toilette aber schon bald nicht mehr benötigt. Denn der DWD zieht sein Personal nach fast 120 Jahren aus den Wetterwart­en ab. Stadler findet dies nach 40 Berufsjahr­en schade. Kein noch so präzise arbeitende­s Messgerät könne die Augenbeoba­chtung ersetzen, sagt er und zitiert den Spruch eines Schweizer Meteorolog­en: „Wer auf dem Berg automatisc­h misst, misst Mist.“

Die Verantwort­lichen beim DWD verweisen auf die fortschrei­tende Automatisi­erung der Wetteraufz­eichnungen. Tatsächlic­h werde deshalb Personal auch von der Zugspitze abgezogen. Es würden aber weiterhin Mitarbeite­r zur Wartung der Geräte gebraucht, wenn auch deutlich weniger als bisher, so DWDSpreche­r Gerhard Lux. 24-StundenSch­ichten gehörten jedenfalls bald der Vergangenh­eit an.

So dürfte für Stadler und Kollegen schon bald eine Ära zu Ende gehen. Auf die Zugspitze will der Wetterbeob­achter danach auch privat nicht fahren. Um die 900 Mal war er auf Deutschlan­ds höchstgele­genem Arbeitspla­tz, doch am goldenen Gipfelkreu­z ist er noch nie gestanden: „Warum auch, ich war immer höher droben als jeder Gipfelstür­mer.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany