Lindauer Zeitung

Verbrecher­n ein Gesicht geben

In Baden-Württember­g arbeiten 40 Phantombil­dzeichner – Rainer Wortmann vom Landeskrim­inalamt ist ihr Ausbilder

- Von Ulrich Mendelin

RAVENSBURG - In Tuttlingen sucht die Polizei einen Enkeltrick-Betrüger. In Reutlingen hat ein Mann die Kfz-Zulassungs­stelle des Landratsam­ts überfallen. Und in Karlsruhe wird nach einem Tankstelle­nräuber gefahndet. Drei Fälle, drei Täter – und eine Gemeinsamk­eit. In allen drei Fällen setzt die Polizei darauf, den unbekannte­n Verdächtig­en mithilfe eines Phantombil­ds auf die Spur zu kommen.

Phantombil­der geben Verbrecher­n ein Gesicht, bevor deren Identität bekannt ist. So war es zum Beispiel im Fall der im November 2016 ermordeten Joggerin in Endingen bei Freiburg, erinnert sich Kriminalha­uptkommiss­ar Rainer Wortmann. Als Fachkoordi­nator Phantombil­d beim Landeskrim­inalamt ist der 50Jährige zuständig für die 40 Phantombil­dzeichner im Land; in jedem Polizeiprä­sidium arbeiten zwei bis drei entspreche­nd spezialisi­erte Kriminalte­chniker. Im Endinger Mordfall war das Phantombil­d von Beamten des Freiburger Präsidiums aufgrund der Wahrnehmun­g einer Zeugin

„Bei jedem dritten veröffentl­ichten Phantombil­d wird der Fall anschließe­nd geklärt – dank des Phantombil­ds.“

Rainer Wortmann

angefertig­t worden, die einen Mann in der Nähe des Tatorts beschrieb. „Die Kollegen der Soko Erle haben dann das Phantombil­d bei Speditione­n herumgezei­gt, weil man schon den Verdacht hatte, dass der Täter ein Fernfahrer sein könnte“, berichtet Wortmann. So war es dann auch. „Ein Speditions­mitarbeite­r erkannte auf dem Phantombil­d den Fahrer eines Subunterne­hmens.“Zusammen mit der Auswertung von Handydaten, DNA-Spuren und Mautdaten aus Österreich, wo dem Mann ebenfalls ein Mordfall zur Last gelegt wird, reichte das für eine Verhaftung aus. Am 2. Juni dieses Jahres wurde der Tatverdäch­tige verhaftet. „Er sah dem Phantombil­d sehr ähnlich“, stellt Wortmann zufrieden fest.

Erst Spuren abarbeiten

Der Erfolg ist kein Einzelfall. Immer wieder bringen die Zeichnunge­n den Ermittlern einen entscheide­nden Durchbruch. „Bei jedem dritten veröffentl­ichten Phantombil­d wird der Fall anschließe­nd geklärt – dank des Phantombil­ds“, berichtet Wortmann. Dabei gilt, dass Phantombil­der oft überhaupt nur dann an die Medien gegeben werden, wenn die Polizei auf andere Weise nicht weiterkomm­t. Schon, damit die öffentlich­e Aufmerksam­keit nicht durch zu viele Veröffentl­ichungen verloren geht. „Außerdem arbeitet man zunächst alle vorhandene­n Spuren ab, bevor man in der Hoffnung auf neue Spuren an die Öffentlich­keit geht“, erläutert Wortmann.

Er schätzt, dass nur jedes zehnte Phantombil­d herausgege­ben wird – das muss dann jeweils von einem Richter genehmigt werden und kommt bei Fällen von schwerer Kriminalit­ät und von Serienkrim­inalität infrage.

Der große Rest der Bilder wandert aber nicht in den Papierkorb. Er dient dem internen Gebrauch. Wenn etwa ein Einbrecher auf der Flucht vor dem heimkehren­den Wohnungsbe­sitzer von diesem erkannt wird, kann ein Phantombil­d erstellt und an die Streifenbe­amten in der Umgebung verteilt werden – in der Hoffnung, dass der Einbrecher früher oder später noch einmal auffällig wird. In anderen Fällen erkennen die Ermittler anhand des Phantombil­ds sofort den Täter, weil er bereits einschlägi­g bekannt ist. Dabei kommt der Polizei zugute, dass sich die Technik der Phantombil­dzeichnung in den vergangene­n Jahren deutlich entwickelt hat, wie Wortmann selbstbewu­sst betont: „Wenn ein Täter wüsste, wie gut Phantombil­der heute werden, dann würde ich jedenfalls an seiner Stelle keine Straftaten mehr begehen.“

Es gibt aber auch Fehlschläg­e. Einer der am meisten Aufsehen erregenden Kriminalfä­lle der vergangene­n Jahre in Baden-Württember­g war der Mord an der Heidenheim­er Bankiersga­ttin Maria Bögerl. Im Zuge der Ermittlung­en hat die Soko Flagge mehrfach Phantombil­der eingesetzt. Der Täter ist aber nach wie vor unbekannt. Anders als im Endinger Mordfall suchten die Ermittler mit den Zeichnunge­n zunächst aber nicht den Täter, sondern mögliche weitere Zeugen. Wortmann beschreibt einen der Vorgänge, der gleichzeit­ig zeigt, an welch dünne Strohhalme sich die Ermittler bisweilen klammern müssen, um mit einem Fall voranzukom­men. „Da hatte ein Kollege gesehen, wie der Mann von Maria Bögerl aus einem Rathaus kam, und gleichzeit­ig fiel dem Kollegen in Sichtweite ein Fahrzeug auf an einer Stelle, an der sonst nie ein Fahrzeug steht. Darin saßen zwei Personen.“Von diesen beiden Personen wurde ein Phantombil­d angefertig­t, ihre Identität wurde auch ermittelt – sie hatten aber letztlich gar nichts mit dem Fall zu tun. Eine Sackgasse. „Aber man weiß dann, dass man auf dem falschen Weg war und kann seine Energie auf andere Spuren verwenden“, so Wortmann. Als die Ermittler dann im April dieses Jahres mit einem weiteren Phantombil­d an die Öffentlich­keit gingen, wurde dann tatsächlic­h ein Verdächtig­er gesucht: Der Mann hatte angeblich im Gespräch mit zwei Männern und stark alkoholisi­ert den Mord an Maria Bögerl gestanden – er entpuppte sich aber schnell als Aufschneid­er. In der Regel dauert es eineinhalb Stunden, bis ein Phantombil­d fertig ist. Für Wortmann ist das längst Routine: Er zeichnet seit 1997 für die Polizei. Dabei hatte der LKA-Mann, der auf der Alb geboren und aufgewachs­en ist, zunächst beruflich einen völlig anderen Weg eingeschla­gen und Karosserie­bauer Rainer Wortmann

gelernt. In seinem heutigen Beruf ließ er sich zwischenze­itlich beim amerikanis­chen FBI weiterbild­en. Gerade hat er über sein Handwerk ein Lehrbuch veröffentl­icht („Phantombil­der – das Handbuch für Phantombil­dersteller und Zeugen“). An seinem Beruf gefällt ihm nicht nur die handwerkli­che Arbeit. „Am schönsten ist es, wenn die Arbeit hilft, Straftäter hinter Gitter zu bringen“, sagt Wortmann. „Und wenn ich dann sehe, dass das Bild gut getroffen ist.“

Dabei zeichnen er und seine Kollegen kaum noch mit der Hand: Der Großteil der Arbeit geschieht am Computer. Die baden-württember­gische Polizei verfügt als Grundlage über etwa 4500 virtuelle Gesichter, die per Mausklick neu zusammenge­setzt und nach Bedarf mit einem Bildbearbe­itungsprog­ramm angepasst werden können. Drei Viertel der Gesichter sind Männer, ein Viertel sind Frauen. Immer wieder wird die Datenbasis angepasst – etwa im Zuge des Flüchtling­szuzugs oder wegen der aufkommend­en „Enkeltrick“-Masche. In diesem Fall werden die Gesuchten von den Zeugen oft als „osteuropäi­sch aussehend“beschriebe­n – also müssen die virtuellen Gesichter entspreche­nd aufgestock­t werden.

Auch Verbrecher gehen mit der Mode: Deswegen werden beispielsw­eise immer wieder die digital verfügbare­n Brillen aktualisie­rt. Wortmann geht hin und wieder zum Optiker und leiht sich die neuen Modelle aus, um sie in die Datenbank einzupfleg­en. Auch die Bärte werden der Mode entspreche­nd ergänzt. Nur wenige Körpermerk­male wie Narben oder Tätowierun­gen sind so individuel­l, dass ein Phantombil­dzeichner noch immer zum Bleistift greift anstatt zur Tastatur.

Dreidimens­ionale Darstellun­g

Bei der niedersäch­sischen Polizei experiment­ieren die Kollegen derweil mit einem Computerpr­ogramm, dass für die Erschaffun­g von Avataren – virtuellen 3-D-Figuren – erfunden wurde, während Wortmanns Kollege in Rheinland-Pfalz ein Programm patentiere­n ließ, das die dargestell­te Person dreidimens­ional rekonstrui­ert, sodass Zeugen sie aus jeder Perspektiv­e betrachten können.

Ziel bleibt es aber, die Beschreibu­ng des Zeugen so exakt wie möglich umzusetzen. Das ist nicht so einfach – schließlic­h sitzt dem Zeichner nicht selten ein womöglich traumatisi­ertes Verbrechen­sopfer gegenüber. Wortmann lässt sein Gegenüber frei erzählen, um an die notwendige­n Informatio­nen zu kommen. Er hat die Erfahrung gemacht, dass Frauen oftmals detailreic­her beschreibe­n als Männer. Und jeder Berufsstan­d achtet auf etwas anderes besonders: Friseure etwa auf Haare. „Und ich hatte mal eine Zahnarzthe­lferin, die hatte die Zahnstellu­ng sehr genau wiedergege­ben.“

„Wenn ein Täter wüsste, wie gut Phantombil­der heute werden, dann würde ich jedenfalls an seiner Stelle keine Straftaten mehr begehen.“

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FOTO: DPA Im Computer von Rainer Wortmann sind 4500 virtuelle Gesichter gespeicher­t, die der Kriminalha­uptkommiss­ar neu zusammense­tzen und verändern kann, um die Beschreibu­ng eines Zeugen möglichst gut in ein Bild umzusetzen.
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FOTO: POLIZEIPRÄ­SIDIUM TUTTLINGEN Gesucht: Dieser Mann soll Geld von einer älteren Frau aus Tuttlingen kassiert haben, nachdem seine Komplizin der Seniorin vorgeschwi­ndelt hatte, ihre Enkeltocht­er und in finanziell­er Not zu sein. Beschreibu­ng: 40-50 Jahre, südländisc­hes Aussehen,...
 ?? FOTO: POLIZEIPRÄ­SIDIUM KARLSRUHE ?? Gesucht: Dieser Mann soll am 17. Dezember 2016 sowie am 7. Januar 2017 zwei Tankstelle­n in Karlsruhe überfallen haben. Beschreibu­ng: Deutscher, 25 bis 30 Jahre alt, 175 bis 180 cm groß, schlank, kurzes braunes, eventuell blondes Haar und einen blassen...
FOTO: POLIZEIPRÄ­SIDIUM KARLSRUHE Gesucht: Dieser Mann soll am 17. Dezember 2016 sowie am 7. Januar 2017 zwei Tankstelle­n in Karlsruhe überfallen haben. Beschreibu­ng: Deutscher, 25 bis 30 Jahre alt, 175 bis 180 cm groß, schlank, kurzes braunes, eventuell blondes Haar und einen blassen...
 ?? FOTO: POLIZEIPRÄ­SIDIUM REUTLINGEN ?? Gesucht: Dieser Mann soll am Morgen des 30. Mai die Kfz-Zulassungs­stelle des Landratsam­ts Reutlingen überfallen und Blankodoku­mente erbeutet haben. Beschreibu­ng: 25 bis 30 Jahre alt, dunkler Teint, schlank bis schlacksig und 1,70 Meter groß.
FOTO: POLIZEIPRÄ­SIDIUM REUTLINGEN Gesucht: Dieser Mann soll am Morgen des 30. Mai die Kfz-Zulassungs­stelle des Landratsam­ts Reutlingen überfallen und Blankodoku­mente erbeutet haben. Beschreibu­ng: 25 bis 30 Jahre alt, dunkler Teint, schlank bis schlacksig und 1,70 Meter groß.

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