Lindauer Zeitung

Zur Intifada fehlen der Wille und die Mittel

- Von Johannes Schidelko, Jerusalem

o schnell der blutige Konflikt um den Jerusaleme­r Tempelberg ausgebroch­en war, so schnell war er wieder vergessen. Zwei Wochen lang versetzten der Streit um das drittwicht­igste islamische Heiligtum und die Angst vor einer dritten Intifada den Nahen Osten und die Weltpoliti­k in Unruhe. Wenige Tage später sind sie aus den israelisch­en Schlagzeil­en verschwund­en. Stattdesse­n geht es um Korruption­svorwürfe gegen Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu, um den Todesschüt­zen von Hebron, der einen verletzten palästinen­sischen Attentäter per Kopfschuss tötete, um die GayPride-Parade von Jerusalem und um einen Streit um Netanjahus Sohn und seine unkorrekte Tierhaltun­g.

Unterdesse­n rätseln Politiker und Politologe­n über die Ursachen dieser raschen Verfallsze­iten. Nicht dass der Streit um die al-Aksa-Moschee oder der israelisch-palästinen­sische Konflikt damit ausgestand­en wären. Aber im Vergleich zum Jahr 2000, als der damalige israelisch­e Opposition­sführer Ariel Scharon mit seinem Tempelberg-Besuch die zweite Intifada lostrat, habe sich die Lage deutlich geändert, meint der frühere Chef des Nationalen Sicherheit­srates, Eran Lerman. Nach seiner Analyse in der „Jerusalem Post“gibt es in Nahost heute breiter angelegte Machtkonst­ellationen und Rivalitäte­n, deren Mechanisme­n sich jetzt auch im Jerusalem-Konflikt zeigten.

Lerman sieht in den Konflikten der Region von Libyen bis zum Jemen vier Mächte, die um eine Vorherrsch­aft ringen: Iran, die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS), die Muslimbrüd­er und das „Lager der Stabilität“. Der IS war in Jerusalem nicht involviert. Wohl aber Iran und das Lager der Muslimbrüd­er, zu dem Lerman die Hamas, die Türkei und Katar zählt, die den Konflikt aufzuheize­n versuchten.

Abbas steckt im Dilemma

Auf der anderen Seite bemühten sich Israel, Jordanien, Saudi-Arabien und Ägypten zu bremsen. Sie haben wenig Interesse am Heiligen Krieg um den Haram al-Sharif, wie der Tempelberg auf Arabisch heißt. Sie machen sich Sorgen um Rückwirkun­gen solcher Unruhen auf die eigenen Straßen; und sie wollen sich nicht von ihrem primären Kampf gegen Iran und den IS ablenken lassen. In diesem Spiel der Lager möchten Abbas und seine Palästinen­serregieru­ng auf der Seite von Jordanien, Saudi-Arabien und Ägypten stehen, und nicht auf der von Hamas und Iran. Das Problem ist, dass sie somit auch auf die Seite Israels gestellt werden, was ihnen nicht gefällt.

Die Analyse Lermans sieht noch zwei weitere Gründe, warum sich der Haram-Konflikt nicht ausweitete. Den Palästinen­sern fehlen dazu der Wille und die Mittel. Seit Ausbruch der zweiten Intifada vor 17 Jahren habe sich viel getan. Die Menge an Waffen und Sprengstof­fen, die damals vorhanden waren, gebe es heute gar nicht mehr. Die Israelis hätten die letzten Depots ausgehoben. Das würde erklären, warum die bevorzugte Waffe palästinen­sischer Terroriste­n heute das Messer sei. (KNA)

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