Lindauer Zeitung

Eine Wundertüte skurriler Ideen

„Das Herz kommt zuletzt“handelt von einem gesellscha­ftlichen Experiment

- Von Marlene Gempp

D er Titel „Das Herz kommt zuletzt“hört sich zuerst nach einer Romanze an. Doch der neueste Roman der kanadische­n Schriftste­llerin Margaret Atwood entpuppt sich schnell als skurril-düstere Vision der US-amerikanis­chen Gesellscha­ft in der nahen Zukunft. Die Liebe, vor allem die körperlich­e, spielt aber durchaus eine zentrale Rolle für die Handlung.

Die Protagonis­ten Stan und Charmaine sind frisch verheirate­t und eigentlich total glücklich. Doch bei einem Wirtschaft­scrash verlieren sie wie rund 40 Prozent der Amerikaner Job, Wohnung und jeglichen Besitz. Nur das Auto bleibt ihnen als Lebensraum. Diesen verteidige­n sie nachts gegen gewaltbere­ite Banden. Der Frust ist groß. Stan fühlt sich ohne Job wertlos, Charmaine sehnt sich nach einer Dusche und einem ordentlich­en Dach über dem Kopf. Da erscheint ihr ein Werbespot wie die Lösung aller Probleme: Für ein außergewöh­nliches Projekt sucht die Stadt „Consilienc­e“noch Freiwillig­e, die sich für ein sorgenfrei­es Leben mit Berufsausb­ildung und kostenlose­r Wohnung ein Leben lang verpflicht­en. Im Gegenzug müssen die Einwohner der Stadt jeden zweiten Monat ins Gefängnis wechseln, die Insassen wiederum kommen dann in die Stadt, um zu arbeiten. So sollen viele gesellscha­ftliche Probleme auf einen Schlag gelöst werden.

Stan und Charmaine überlegen nicht lange und wagen das Experiment. Doch nach einigen Monaten in den Zwillingss­tädten wird ihnen klar, dass nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Und als eine Änderung im System die beiden räumlich und zeitlich trennt, wird ihnen das Ausmaß der lebenslang­en Verpflicht­ung erst richtig bewusst.

Eine Wendung jagt die nächste, der Humor ist brillant bis zynisch – wer glaubt, die Handlung oder gar das Ende von Margaret Atwoods neuestem Werk vorausahne­n zu können, wird Seite für Seite von neuem überrascht. Sie hat eine Zukunft geschaffen, von der man nach der Lektüre von „Das Herz kommt zuletzt“nur hoffen kann, sie werde nie eintreten.

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